1. Die Sozialen Verhältnisse und das Gesundheitswesen
Die Verschlechterung der öffentlichen Sicherheit
Die gegenwärtige wirtschaftliche Situation
Die Privatisierung
Die schwarze und die Schattenwirtschaft
Die Landwirtschaft
Die natürliche Umwelt
3. Staat und Politik
4. Die Kultur
Die Kultur ...
... im öffentlichen Leben
... in der Familie
... im kulturellen Leben
Die Kommunikation
Bildung und Erziehung
Schlusswort
Einführung
Das Motiv und die Adressaten des
Hirtenbriefes
1. Die Kirche ist beauftragt, das Evangelium in allen
historischen Situationen zu verkünden, den Weg zur Ewigkeit zu zeigen,
und im Bewußtsein dieses Auftrags Kriterien zur Führung unseres
diesseitigen Lebens zu geben. Dieser Auftrag macht uns ungarische
Katholiken dafür verantwortlich, daß wir zum 1100jährigen Jubiläum des
ungarischen Staates, und zum tausendjährigen Bestehen der katholischen
Kirche Ungarns und an der Schwelle eines neuen Jahrtausends uns mit
der gegenwärtigen Lage unseres Landes, mit dem Leben der hier
lebenden Menschen auseinandersetzen: mit den hoffnungsvollen
Chancen und Möglichkeiten, die die Wende uns 1989-1990 eröffnet hat.
Aber wir dürfen die Augen auch vor den Sorgen nicht verschließen, die
die Gesellschaft bedrücken.
2. In Europa und auch in Ungarn sind in den letzten
Jahren tiefgreifende Veränderungen eingetreten. Wie mehrere
Länder auf diesem Kontinent, so gewann auch Ungarn seine Freiheit und
Unabhängigkeit zurück. Es konnte die Gestaltung seines Schicksals
wieder in die eigene Hand nehmen, um eine menschlichere, glücklichere
Zukunft aufzubauen. Angesichts dieser Veränderungen sind wir vor Gott
vom Gefühl des Dankes erfüllt. Wir danken auch denjenigen, die diesen
Wandel, wissend, wie mühselig und riskant er war, vorbereitet und
durchgeführt haben,
3. Es ist eine neue Epoche in der Geschichte Ungarns
angebrochen. 1989-1990 erfüllte viele von uns mit der Hoffnung, daß das
Ende der jahrzehntelangen Abhängigkeit und des diktatorischen
Einparteiensystems, bzw. daß, die Geburt eines demokratischen
Rechtsstaates den Wohlstand bringt. Bald mußten wir aber erkennen, daß
das Gelobte Land noch weit ist. Viele wurden von der Illusion erfüllt,
die politische Freiheit würde automatisch das Glück bedeuten. Es mußten
Jahre vergehen, bevor wir begreifen konnten, was für Schäden die
vergangenen Jahrzehnte nicht nur im politischen, gesellschaftlichen und
wirtschaftlichen Leben, sondern auch in der Moral und im Wertsystem der
Bürger verursacht haben. Es dürfen allerdings auch die Werte nicht
vergessen werden, die viele von uns auch in den vergangenen Jahrzehnten
vertreten haben und auch jetzt vertreten. Trotz alledem braucht man
noch lange Zeit um zu klären, welchen Weg das Land gehen muß, um die
Bedingungen eines freien und glücklichen menschlichen Lebens für alle
Bürger und Schichten der Gesellschaft schaffen zu können.
4. Selbstverständlich haben sich in der von Grund
auf
veränderten gesellschaftlichen und politischen Situation viele
unterschiedliche Vorstellungen entwickelt, wie man die neuentstehende
ungarische Demokratie gestalten soll. Es ist aber bedauernswert, daß
die Gesellschaft in vielen wichtigen Fragen auch nach Jahren zu keinem
Konsens kommen konnte, und daß es nicht zu einer echten, die
langfristigen Interessen des Landes berücksichigenden
gesellschaftlichen Einheit gekommen ist. Es ist noch mehr
schmerzlich, daß die Interessen der Individuen und verschiedener
gesellschaftlichen Gruppen sich oft gegeneinander richten - und daß
dabei auch die Unsicherheiten der Veränderungen ausgenützt werden.
Viele wollten nur ihre eigenen Interessen durchsetzen, andere strebten
nur danach den größtmöglichen Teil aus der politischen Macht oder aus
dem Vermögen der Gesellschaft oder aus beiden zu erwerben. In diesen
Phänomenen sind die Konsequenzen der Politik der vergangenen Jahrzehnte
deutlich zu erkennen. Die einzelnen Menschen und Gruppen wurden bewußt
voneinander isoliert. Die überwiegende Mehrheit der gesellschaftlichen
Organisationen, darunter auch die konfessionellen, wurde aufgelöst. Die
Tätigkeit derer, die doch existieren durften, wurde behindert. Die
Beziehungen im öffentlichen Leben wurden unter eine zentrale
Reglementierung gestellt. All das führte zur Atomisierung der
Gesellschaft und zu einem landesweiten Mißtrauen.
5. Die hier angeführten Faktoren trugen dazu bei,
daß man
sich - trotz entscheidenden Veränderungen und erfreulichen
Entwicklungen in vielen Bereichen - in den letzten Jahren mit immer
schwerwiegenderen Krisensymptomen auseinandersetzen muß. Die Ungarische
Bischofskonferenz hat - aufgrund ihrer von Christus erhaltenen Sendung
und geleitet von dem christlichen Verantwortungsbewußtsein für das Land
- den in Ungarn ablaufenden Entwicklungen von Anfang an besondere
Aufmerksamkeit gewidmet. Sie hält es für ihre unaufschiebbare Pflicht,
zu dieser geschichtlich wichtigen Zeit, sich zu Wort zu melden, um im
Lichte des Evangeliums die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Lage
des Landes zu bewerten. Deshalb wendet sie sich jetzt an all ihre
Gläubigen und an alle ungarischen Staatsbürger guten Willens. Sie
handelt im Einklang mit dem Willen Christi und im Geiste des Zweiten
Vatikanischen Konzils, indem sie die Sorgen und die Freude jedes
Menschen, und der ganzen Nation teilt. ?Es gibt nichts wahrhaft
Menschliches, das nicht in den Herzen der Jünger Christi seinen
Widerhall fände? (GS1). Sie will an der Erschließung gemeinsamer Sorgen
und an der Suche nach Auswegen teilnehmen, indem sie die Werte und
Deutungen der christlichen Soziallehre darlegt: ?Ganz besonders wünsche
ich, daß sie in den verschiedenen Ländern bekanntgemacht und in die Tat
umgesetzt wird, wo sich nach dem Zusammenbruch des realen Sozialismus
eine ernste Desorientierung beim Werk des Neuaufbaus zeigt? (CA 56) -
schrieb Papst Johannes Paul II. Seine Worte werden besonders durch
seinen zweiten Besuch in Ungarn aktuell.
6.Wir richten unsere Worte in erster Linie an die Gläubigen.
Wir wollen uns aber an jeden Bürger des Landes, an Gläubige und
an Nichtglaubende wenden, denen das Schicksal ihres Landes wichtig ist,
die nach dem Aufbau einer freieren und menschlicheren Welt streben. Wir
wollen hoffen, daß unser Ruf von möglichst vielen gehört und verstanden
wird, und daß ein Dialog und dadurch eine Zusammenarbeit entstehen
kann.
Die Intellektuellen sind hier mit
besonderem
Gewicht angesprochen. Gleichzeitig wenden wir uns an die christlichen
Intellektuellen, die an ihre besondere Verantwortung erinnert werden
sollen, und an den Teil der Intellektuellen die sich christlich nicht
engagieren, damit wir in der größtmöglichen Einheit für unsere
gemeinsamen Ziele arbeiten können.
Die
Evangelisierung
und der Aufbau der Gesellschaft
7. Einige stellen vielleicht die Frage, warum unsere
Bischofskonferenz sich zu gesellschaftlichen und wirtschaftlichen
Fragen äußert, zumal die Aufgabe der Kirche in der Evangelisierung
besteht. Die Verkündigung des Evangeliums schließt aber nicht aus,
sondern im Gegenteil schliesst in sich auch die Aufgabe der
Gemeinschaft der Christen und aller Glieder dieser Gemeinschaft ein,
sich für die Verbesserung des Lebens der Einzelnen und für die
Errichtung einer gerechteren und brüderlicheren Gesellschaft
einzusetzen. ?In der Tat, die Verkündigung und Verbreitung der
Soziallehre gehört wesentlich zum Sendungsauftrag der
Glaubensverkündigung der Kirche; sie gehört zur christlichen
Botschaft, weil sie deren konkrete Auswirkungen für das Leben in
der Gesellschaft vor Augen stellt und damit die tägliche Arbeit und den
mit ihr verbundenen Kampf für die Gerechtigkeit in das Zeugnis für
Christus den Erlöser miteinbezieht. Sie bildet darüber hinaus eine
Quelle der Einheit und des Friedens angesichts der Konflikte, die im
wirtschaftlich-sozialen Bereich unvermeidlich auftreten.? (CA 5).
8. Das Evangelium ist nicht nur für das Individuum,
sondern auch für die Gesellschaften eine Gute Nachricht.
(a) Es ist Teil der christlichen Sendung, die
Welt
besser und schöner zu machen. Das Erlösungswerk Christi, das
ursprünglich auf das Heil der Menschen ausgerichtet war, schliesst auch
die Erneuerung der diesseitigen Ordnung in sich ein. So soll die Kirche
nicht nur die Botschaft und Gnade Christi verkünden, sondern sie muß
auch die diesseitige Ordnung mit dem Geist des Evangeliums durchdringen
und vervollkommnen. (AA 5).
(b) Von diesem Interesse geleitet bemühte sich die
Kirche - besonders im Laufe des letzten Jahrhunderts - anhand der
evangelischen Werte, auch in konkreten sozialen Fragen Antworten zu
geben, d.h. sie hat wiederholt ihr prophetisches Wort erhoben.
?Die Kirche muß in bestimmten menschlichen Situationen, sei es auf
individueller oder sozialer, nationaler oder internationaler Ebene, das
Wort ergreifen. Dafür hat sie eine eigene Soziallehre formuliert, die
es ihr ermöglicht, die soziale Wirklichkeit zu analysieren, sie
zu beurteilen und Richtlinien für eine gerechtere Lösung der
entstehenden Probleme anzugeben.? (CA 5).
(c) Die Beteiligung am Leben und Handeln der
Gesellschaft ist eine allgemeine menschliche und christliche
Pflicht. ?Bei allen muß daher der Wille zur Mitwirkung an gemeinsamen
Werken geweckt werden.? (GS 31). ?Die Christen sollen in der
politischen Gemeinschaft jene Berufung beachten, die ihnen ganz
besonders eigen ist.? (GS 75).
(d) Es ist die Pflicht der Gemeinschaften der
Christen
eines jeden Landes die Situation ihres Landes der Wirklichkeit
entsprechend zu analysieren und mit dem Lichte des Evangeliums zu
beleuchten. Sie sollen die Prinzipien der Analyse, die Kriterien des
Situationsberichtes und die Optionen des Handelns mit Hilfe der
katholischen Soziallehre erarbeiten. Auf diese Aufgabe sind wir von
Papst Paul VI. in seinem apostolischen Schreiben Octogesima
adveniens aufmerksam gemacht worden, indem er die Verantwortung
der Ortskirchen für die Lösung von konkreten, lokalen Problemen
betont. ?Diesen einzelnen christlichen Gemeinschaften also obliegt es,
mit dem Beistand des Heiligen Geistes, in Verbundenheit mit ihren
zuständigen Bischöfen und im Gespräch mit den anderen christlichen
Brüdern und allen Menschen guten Willens darüber zu befinden, welche
Schritte zu tun und welche Maßnahmen zu ergreifen sind, um die
gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Reformen
herbeizuführen, die sich als wirklich geboten erweisen und zudem oft
unaufschiebbar sind.? (OA 4).
Das Ziel
und
die Themen des Sozialhirtenbriefes
9. Es ist uns inzwischen klargeworden: in diesem Land
spielte und spielt sich nicht nur eine politische und wirtschaftliche
Wende ab. Wir sind an viel komplexeren, teils konstruktiven, teils
zerstörerischen Ereignissen beteiligt. Wir können kein Fundament der
Zukunft errichten wenn wir diese nicht systematisieren, wenn wir ihre
Gründe nicht darlegen, wenn wir keine Lösungsmöglichkeiten skizzieren.
Um die Transformation des Landes erfolgreich fortsetzen zu können
müssen wir zunächst unser Erbe der vergangenen Jahrzehnte
überschauen. Das ist auf vielen Gebieten - besonders im
Wirtschaftsleben - mindestens teilweise bereits geschehen, ist aber in
vielen Bereichen noch nicht erfolgt. Es ist nicht unser Ziel,
Sündenböcke ausfindig zu machen, für die angerichteten Schäden
Individuen oder Gruppen an den Pranger zu stellen. Wir wollen
stattdessen mit gemeinsamer Kraft nicht nur das
wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Leben des Landes,
sondern auch sein Wertbewußtsein (die moralische Werte inbegriffen)
umgestalten, um allen, die in diesem Land leben beim Aufbau eines
besseren, menschlicheren Lebens zu helfen, ohne dabei die Ungarn die
außerhalb der Staatsgrenze wohnen zu vergessen.
10. Die Gläubigen und die Nicht-Glaubenden sollen
sich
für die Menschen, für uns alle, zusammenschließen. Keine Partei darf
diese gemeinsame Anstrengung aus politischem Interesse für sich allein
beanspruchen. Wenn die Ungarische Katholische Bischofskonferenz ihr
Wort erhebt, will sie dadurch nicht Macht der Kirche vergrößern. Sie
beabsichtigt nicht ihre eigenen Ansichten der Gesellschaft
aufzuzwingen. Sie nimmt aber die ihr zukommende gesellschaftliche
Verantwortung wahr und will ihren Beitrag an dem Aufbau des Landes
leisten, ohne sich unter diesem Vorwand in die Parteipolitik
einzumischen, da ?die Kirche, ... in keiner Weise hinsichtlich ihrer
Aufgabe und Zuständigkeit mit der politischen Gemeinschaft verwechselt
werden darf, noch auch an irgendein politisches System gebunden ist
...? (GS 76).
11. In unserem Hirtenbrief legen wir eine skizzenhafte
Beschreibung der gegenwärtigen ungarischen Situation dar, freilich
im Lichte der katholischen Soziallehre. Unsere Aufmerksamkeit richten
wir auf das wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Leben,
insbesondere auf die sozialen Verhältnisse, und schließlich auf
einige Fragen der Kultur und Erziehung. All diese Themen hängen
miteinander zusammen, daher ist es unvermeidlich, daß manche - immer
unter einem anderen Blickwinkel - in mehreren Kapiteln vorkommen. Im
Zusammenhang mit jedem Thema ist zunächst eine kurze Beschreibung der
gegenwärtigen ungarischen Lage zu lesen. Daran schließen sich einige,
keineswegs eine Vollständigkeit beanspruchende Schlußfolgerungen an,
die sich vom christlichen Menschenbild und von der katholischen
Soziallehre ableiten lassen. Es ist offensichtlich, dass die Aufgabe
der Kirche nicht darin liegt, genaue Aktionspläne zur Lösung
gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und kultureller Probleme unserer
Zeit zu erarbeiten. Die hier zu lesenden Deutungen und Empfehlungen
können aber den Experten und all den tatkräftigen Menschen unserer
Gesellschaft bei der Suche nach Lösungen helfen.
Wir haben uns Mühe gegeben, unser Schreiben
sowohl
für die Gläubigen als auch für die Welt verständlich zu formulieren.
Wir schreiben über unser diesseitiges Leben in der Sprache des
Alltagsmenschen. Obwohl unser Hirtenbrief auf Fachanalysen beruht,
haben wir uns bemüht die fachwissenschaftliche Sprache zu vermeiden um
allgemeinverständlich zu bleiben.
2. Wir hoffen, daß dieses Schreiben das Interesse
der
Gläubigen und aller Menschen guten Willens weckt. Wir wollen auch
hoffen, daß unsere Leser weiterdenken, und wenn nötig, präzisere
Formulierungen finden, damit wir uns gemeinsam über die richtigen
Lösungswege Gedanken machen können. Bei der Suche nach Lösungen können
wir die christliche Lehre der Kirche auf die ungarischen Verhältnisse
anwenden, und darunter auch diejenige Lösungen ausfindig machen, die
wir zum Aufgabebereich der Kirche gehörend betrachten. Wir vertrauen
darauf, daß die gemeinsame Arbeit, zu der dieser Hirtenbrief über
die Analyse der ungarischen Gesellschaft unserer Zeit anregen kann,
die Verantwortung der Christen für das Land und für ihre Mitmenschen
fördern wird, und daß dadurch auch eine breitere Zusammenarbeit in der
Gesellschaft in Gang gesetzt wird, damit der Analyse - auch innerhalb
der Kirche - Taten folgen, und damit Ungarn - diese seltene historische
Chance nutzend - einen Schritt in eine glücklichere Zukunft macht.
1. Die sozialen Verhältnisse und das Gesundheitswesen
A. Situationsanalyse
13. Grundlegende gesellschaftliche, politische
und
wirtschaftliche Veränderungen vollziehen sich heute in Ungarn. Die
radikalen Wandlungen werden von großen Schwierigkeiten und von Krisen,
die das Leben der Gesellschaft erschüttern, begleitet. Diese Last wird
von der Mehrheit der Bevölkerung als Verlust und nicht selten als
qualvolles Opfer empfunden. Die Verlierer und die Opfer des
Überganges sind Menschen, die an Krankheiten, Einsamkeit,
Existenzunsicherheit, an Sorgen um ihren Lebensunterhalt, nicht selten
an Rechtlosigkeit, an Obdachlosigkeit, Arbeitslosigkeit und an
Ausgestoßensein leiden. Trotz den wirtschaftlichen und sonstigen
Argumenten, wonach die materielle Basis, der bis zum Ende der 80er
Jahre dauernden sozialen Sicherheit, größtenteils lediglich aus
Auslandskrediten gelegt werden konnte und in vieler Hinsicht diese
Sicherheit sich als nur scheinbar erwiesen hat, ist deren Abbau
besorgniserregend.
14. Zu den schwerwiegenden Problemen Ungarns gehört
die wachsende
Armut, die sich in der raschen Zunahme der Zahl der Notleidenden
zeigt. Immer mehr Menschen müssen eine angemessene Wohnung, Bekleidung,
Nahrung und andere Bedingungen, die für ein menschenwürdiges Leben
notwendig sind, entbehren. Der Prozeß der Verarmung
beschleunigt sich: wie es bereits in einer Untersuchung der Weltbank
festgestellt wurde war 1989 5 Prozent der Gesamtbevölkerung arm, bis
1993 hat sich aber diese Zahl verfünffacht. Nach Angaben des
Zentralamtes für Statistik lebten in den 80er Jahren eine Million
Menschen unter dem Existenzminimum, 1992 lag diese Zahl schon bei zwei
Millionen, 1995 waren es annähernd 3,5 Millionen.
15. Die bereits im Einparteiensystem entstandenen
grundlegenden sozialen Spannungen ließen nicht nach, im
Gegenteil, sie verstärkten sich noch. Jene Entwicklungen, die
zu einer schweren gesellschaftlichen Ungleichheit geführt haben,
konnten nicht angehalten werden, während des Übergangs in die
Marktwirtschaft wurden sie sogar immer ausschlaggebender und nahmen
immer neue Formen an, wodurch die Kluft zwischen einer rasch und
unmäßig reich gewordenen schmalen Schicht und der mit finanziellen
Sorgen kämpfenden Mehrheit des Volkes immer tiefer wurde. Die weltweit
beobachtbare Tendenz gilt jetzt auch in Ungarn: die Reichen werden
immer reicher, die Armen immer ärmer. Der Unterschied im Lebensniveau
der Reichen und der Armen war 1995 bereits größer als im Durchschnitt
der westeuropäischen Länder, obwohl er immer noch der kleinste in
Osteuropa war.
16. Eine besonders kritische Situation ist in dieser
Übergangszeit dadurch entstanden, daß die Reform der sozialen
Versorgungsnetze und der Sozialversicherung gleichzeitig mit einem
wirtschaftlichen Rückschlag und mit der wesentlichen Verringerung der
zu verteilenden Mittel einhergeht. Die Wirksamkeit des vor der Wende
noch existierenden sozialen Netzes hat nachgelaßen. Das neue, den
veränderten sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen entsprechende
Versorgungsnetz funktioniert aber nur teilweise, in vieler Hinsicht ist
es nicht einmal ausgebaut.
Innerhalb der hier aufgeworfenen Probleme ergibt
sich
eine besondere Schwierigkeit daraus, daß die Sozialhilfe bzw. die
Versorgung der Langzeitarbeitslosen, und der Sozialhilfeempfänger nur
ansatzweise gelöst ist.
17. Die Reform des Staatshaushaltes ist, wie das
auch die
Praxis der reicheren west-europäischen Ländern zeigt, unvermeidbar. Bei
uns ist die Grenze zwischen der Minderung der Sozialausgaben und der
strukturellen Veränderungen verschwommen. Die erstere wird selten
von durchdachten Strukturreformen begleitet, oder aber werden diese
verzögert. Die Auswirkungen der Einschränkungen sind allerdings sofort
zu spüren, die Lebensbedingungen der Menschen werden schwieriger, ohne
daß es deutlich zu sehen wäre, was das eigentliche Ziel des gebrachten
Opfers ist.
18. Während der Systemveränderung gerieten einige
sozialen Gruppen in eine mehrfach nachteilige Situation.
Der Hauptgrund der Verarmung ist in der zunehmenden
Arbeitslosigkeit zu suchen. Dem westeuropäischen Durchschnitt
ähnlich ist 10 Prozent der aktiven Bevölkerung arbeitslos, wenn auch
die Schätzungen Unterschiede aufweisen. Mit dem Übergang zur
Marktwirtschaft, mit einer rationaleren Organisation der Arbeitsplätze
und der Produktion wurde die Praxis der scheinbaren Vollbeschäftigung
(die Arbeitslosigkeit innerhalb des Arbeitsplatzes) beendet. Eine
Konsequenz der Modernisierung besteht darin, daß viele Arbeitsplätze
abgeschafft wurden, andere wurden so verändert, daß sie schon einer
höheren Qualifikation bedürfen, zu der viele unfähig sind. Es ist aber
unannehmbar diese Probleme lediglich als eine wirtschaftliche Frage zu
behandeln.
Ganz besonders die Kinder sind in eine
ungeschützte Lage geraten. 45 Prozent der jungen Menschen (jünger als
19 Jahre) lebten im Jahr 1994 in Haushalten, in denen das
Pro-Kopf-Einkommen unter dem Existenzminimum lag. Das Risiko unter die
Armutsgrenze zu fallen wächst mit der Anzahl der nichterwerbstätigen
Kinder. Mit der Verschlechterung der wirtschaftlichen und der
sozialen Situation, aber auch zahlreichen Regierungsbeschlüssen
zufolge, die besonders die Familien mit Kinder belasten, haben sich die
zur Verarmung führenden Konsequenzen des Kinder-haben-wollens
verstärkt. Jene Praxis, wonach die Annahme mehrerer Kinder einen
besonderen Heldenmut fordert und zwangsläufig zur Verarmung führt, kann
nicht akzeptiert werden. Der Realwert des Kindergeldes verringerte sich
wesentlich in den letzten Jahren, gleichzeitig wurden viele
Vergünstigungen für Kinder abgeschafft.
Eine der solidsten Grundlagen für die Zukunft eines
Landes bedeuten die Familien, die bereit sind, Kinder nicht nur
zur Welt zu bringen, sondern sie auch großzuziehen. Die gute Atmosphäre
der Familie sichert nicht nur eine glückliche Kindheit und damit das
schönste Geschenk, das man einem Kind geben kann, sondern sie bedeutet
auch die beste Voraussetzung zur Erziehung wertvoller und guter
Staatsbürger für die Gesellschaft.
Die Schwangerschaftsunterbrechung wird
größtenteils mit sozialen Begründungen in Anspruch genommen. Die
schwere, für viele verzweifelte soziale Lage ist mitverantwortlich
dafür, daß 1995 die Zahl der Abtreibungen bei 77.000 lag. Sie nahm in
erster Linie unter den 20-29jährigen Frauen mit drei oder mehr Kindern
zu, was offensichtlich die Folge der seit Frühling 1995 geltenden
Maßnahmen ist, die viele sozialpolitische Begünstigungen so
abschafften, daß die Gesellschaft keine Möglichkeit hatte, sich auf die
neue Situation vorzubereiten. Das alles erfolgte, obwohl die Eltern das
subjektive Recht haben eine erhöhte moralische, finanzielle und soziale
Unterstützung zu beanspruchen, damit die Chancengleichheit für alle
geborenen und noch zur Welt kommenden Kinder gesichert wird.
In den letzten Jahren haben sich die Einkommensverhältnisse
der Rentner wesentlich verschlechtert. Der Realwert der Rente
schrumpft in noch größerem Maße als der des Gehaltes. Der Realwert
einer Rente sank um 23 Prozent in den vergangenen 5 Jahren. Die
Inflation, insbesondere die Preiserhöhung der Medikamente belastet am
meisten die Alten und die Kranken. Wir können über die schmerzhafte
Tatsache nicht hinwegsehen, daß diejenigen Generationen, die den Krieg
und die danach kommenden Jahre miterlebten, die jahrzehntelang
anständig gearbeitet haben, jetzt, in der letzten Phase ihres Lebens
mit immer größeren finanziellen Problemen konfrontiert werden. Neben
der Last des Altwerdens müssen sie sich mit der Verlassenheit, mit dem
Bewußtsein der Aussichtslosigkeit, und mit dem Gefühl, daß sie
überflüssig sind, auseinandersetzen. Sie haben das Gefühl - und dieses
wird oft auch von den Medien suggeriert -, daß sie den anderen nur zur
Last fallen. Vielen wird das Leben nicht nur erbittert, sondern auch
verkürzt, weil sie unfähig sind, sich selbst finanziell zu versorgen.
Die Zahl der Rentner nähert sich an die 3 Millionen, und diese Zahl
wird in den kommenden Jahren noch kontinuierlich weiter steigen. Die
Sorgen wachsen auch dadurch, dass in der Bevölkerung der Anteil der
Alten zunimmt, was für die Gesellschaft eine immer grössere finanzielle
Last bedeutet.
Unsere Politik mit den Minderheiten wird
auch im
internationalen Vergleich anerkannt. Trotzdem dürfen wir nicht
verschweigen, daß die Chancen der Roma-Bevölkerung für ein
menschenwürdiges Leben um einige Größenordnungen kleiner sind, als die
von anderen Gruppen der Gesellschaft. Als Veranschaulichung wollen wir
eine einzige Angabe aus dem jahr 1995 nennen. Der Anteil der
Arbeitslosen unter der nicht Roma-Bevölkerung liegt bei 10,6 Prozent,
unter der Roma-Bevölkerung bei 45,5 Prozent. Die Gesellschaft soll in
der Zukunft den Problemen der Minderheiten größere
Aufmerksamkeit schenken. Der Anwesenheit der Flüchtlingen und der
Asylbewerber wird heutzutage noch keine besondere Bedeutung
beigemessen, obwohl ihre Zahl wahrscheinlichen zunehmen wird und man
wird sich früher oder später mit dieser Frage auseinandersetzen müssen.
Die Zahl der Obdachlosen und der Ausmaß der
damit entstehenden Aufgaben nimmt dramatisch zu. Zur Zeit leben etwa
30-40.000 Menschen ohne einer angemessenen Behausung. Wir verfügen
allerdings zunächst nicht einmal über genaue Daten.
Die Grösse und der
gesundheitliche
Zustand der Bevölkerung
19. Die erstmals 1981 beobachtete Abnahme der
Bevölkerung
hält weiter an. Die Bevölkerungszahl sinkt seit 15 Jahren mit
steigender Geschwindigkeit, sie sank in dieser Zeit insgesamt fast um
eine halbe Million. Seit 1990 zählt das Land 160.000 Menschen weniger.
Der Geburtenanteil war 1995 kaum 1.1 Prozent, und die Sterberate ist
dem Vorjahr gegenüber kaum kleiner geworden. Die Erhöhung des
Durchschnittsalters kam 1982 zu einem Ende, und nimmt seitdem ab. Auch
das bei der Geburt erwartbare Alter nimmt ab, besonders bei Männern
(heute ist es 64,8 Jahre, in Österreich aber 72,9 Jahre). Im
europäischen Vergleich steht Ungarn auch in dieser Hinsicht auf dem
letzten Platz. Die Sterblichkeitsrate der erwachsenen Männer liegt so
hoch wie vor 60 Jahren. Hinsichtlich der Sterblichkeitsrate folgen
Ungarn - in Europa - nur Russland, andere Nachfolgestaaten der
Sowjetunion und Rumänien.
Diese tragischen Verhältnisse werden durch die
fortlaufenden Störungen der Sozialversicherung, durch die Erhöhung der
Rentenaltersgrenze auf die Höhe der Lebenserwartung, und durch die
Verschlechterung der medizinischen Versorgung weiter
verschlschlechtert. Für die Abnahme der Bevölkerungszahl sind die
ununterbrochen andauernde Abnahme der Zahl der Lebendgeburten, die hohe
Sterblichkeitsrate der älteren Jahrgänge und die Zunahme der
Sterblichkeit unter den Menschen in mittleren Jahren verantwortlich.
Die Verschlechterung der Bevölkerungsentwicklung droht in diesen Tagen
wahrlich zu eine nationale Katastrophe zu werden.
20. Der Gesundheitszustand der Bevölkerung
verschlechtert sich in einem alarmierenden Ausmaß, teils wegen
äußerer Bedingungen, teils wegen unserer ungesunden, nicht selten
zwangsläufig selbstausbeutenden oder sogar selbstzerstörerischen
Lebensweise. Unter den psychiatrisch Behandelten ist in den 90er Jahren
die Zahl der Menschen mit depressiven Krankheiten am stärksten
gestiegen ist. Die Zahl der Herz- und Kreislauf-Erkrankungen und jener
der Krebserkrankungen ist in Ungarn sehr groß. Die Tuberkolose hat sich
weltweit erneut gemeldet, sie verbreitet sich aber in besonders großem
Maße in Ungarn. Die Gründe sind bekannt: ungesunde, mangelhafte
Ernährung, schlechte hygienische Verhältnisse und der völlige oder
hochgradige Mangel einer Körperkultur. Viele richten ihre Gesundheit
durch Rauchen und Alkohol zugrunde. Die Zahl der Alkoholkranken
hat sich in den 90er Jahren verdoppelt: 10-12 Prozent der erwachsenen
Bevölkerung (etwa 800.000 Menschen) sind als Alkoholiker einzustufen.
Auch der Drogenkonsum verbreitet sich immer mehr, in erster
Linie unter den Jugendlichen. Eine andauernde und besorgniserregende
Erscheinung ist die hohe Selbstmordhäufigkeit, ein Anzeichen der
Verschlechterung der seelischen Gesundheit. In dieser Hinsicht stand
Ungarn Anfang der 80er Jahre im internationalen Vergleich (mit 0,45
Prozent) noch immer an der schlechtesten Stelle. Seit der zweiten
Hälfte der 80er Jahre nahm die Zahl der Selbstmorde ab (1995 war es nur
0,343 Prozent), dennoch bleibt die Selbstmordrate Ungarns die höchste
auf der ganzen Welt.
Es gibt in Ungarn keine mit Finanzmitteln adäquat
unterstützte Bevölkerungspolitik. Es fehlt ein umsichtiges
familienorientiertes Regierungskonzept, das mit der Wirtschafts- und
Gesellschaftspolitik im Einklang stehen würde. Es fehlt sogar ein
Zukunftsbild, das dazu die Grundlage geben würde.
Die Verschlechterung der
öffentlichen
Sicherheit
21. Der auffallendste und bedauernswerteste Hinweis
darauf, daß die öffentliche Moral sich verschlechtert, ist die umfassende
Verschlechterung der öffentlichen Sicherheit: Diese Tatsache wird
dadurch noch besorgniserregender, daß in den vergangenen sechs Jahren
auch die Schwere und der Gewaltcharakter der Straftaten zugenommen hat,
und zwar in einem sich beschleunigendem Tempo. Die Zahl der
bekanntgewordenen Straftaten lag im Jahre 1985 bei 166.000, im
Jahre 1989 bei 225.000 und im Jahre 1995 bei 502.000, d.h. sie hat sich
in den letzten 10 Jahren verdreifacht und in den letzten 5
Jahren verdoppelt. Der Drogenkonsum und die ihn begleitende
Kriminalität verbreiten sich immer schneller. Eine massenhafte
Prostitution, die immer mehr herausfordernd und protzig geworden ist,
droht allmählich das Land um seinen guten Ruf zu bringen. Die
Institutionen zur Aufrecherhaltung der öffentlichen Ordnung sind trotz
all ihren Bemühungen ihren Aufgaben nicht gewachsen, schon deswegen
nicht, weil die Wiederherstellung der gesunkenen
gesellschaftlichen Moral und des zerfallenen Wertsystems keine nur
polizeiliche Aufgaben sind.
Die meisten Bürger, die die Gesetze
respektieren, müssen ein immer stärker werdendes Gefühl der Bedrohtheit
ertragen, da sie die körperliche und materielle Sicherheit ihrer
eigenen Person und ihrer Familienmitglieder nicht gewahrt wissen
können. Die Atmosphäre der Angst belastet fortlaufend unser aller
Allgemeinbefinden. Unter dem Einfluß des Bedrohtheitsgefühls verstecken
wir uns hinter Schloß und Riegel. Wir gewöhnen uns daran, daß wir erst
nach Überwindung unserer Angst auf die Straße hinauszugehen wagen. Das
ist aber keine Lösung. Das führt nur zum weiteren Zerfall der
Gemeinschaft.
In ihrem jetzigen Zustand sind die Gefängnisse
nicht
in der Lage die Gefängnisinsassen auf eine Lebenssituation
vorzubereiten, die nach Absitzen ihrer Strafzeit für die Gefangenen
bzw. für die Gesellschaft wünschenswert wäre. Sofern wir unsere
Mitmenschen aus der Gesellschaft lediglich ausschliessen, entziehen wir
ihnen leider meistens jede Chance zu einem mehr menschenwürdigen Leben.
22. Die Korruption, die die verschiedensten
Bereiche des wirtschaftlichen, politischen und sogar des
gesellschaftlichen Lebens durchdringt bedeutet ein großes Hindernis für
die Zurückdrängung der Kriminalität, für die Minderung der
gesellschaftlichen Ungleichheit und für die Förderung der Unternehmen.
Die Mißbräuche sind oft nicht zu erkennen, da sie in mehrfach
versteckter Form geschehen. Es ist aber nicht selten zu beobachten, daß
sie auf den mittleren und oberen Ebenen ungestraft praktiziert werden
können: als z.B. bei Vertragsabschlüssen, bei der Kreditgewährung, bei
der Verteilung von öffentlichen Mitteln die Verantwortlichen durch
finanzielle oder andere Begünstigungen beeinflußt werden. Solange keine
ausreichend wirksamen Maßnahmen dagegen getroffen werden, können sich
keine gerechten gesellschaftlichen Verhältnisse entwickeln.
23. Dem Beispiel ihres Gründers folgend soll sich
die
Kirche mit besonderer Liebe um die Armen, die Entmachteten, die
Unterdrückten kümmern. Das ist eine der wichtigsten Aussagen der
Katholischen Soziallehre. Sie ist in den vergangenen hundert Jahren
immer entschiedener und immer dringender zu einer Verpflichtung
geworden. ?So muß doch der Staat beim Rechtsschutze zugunsten der
Privaten eine ganz besondere Fürsorge für die niedere, besitzlose Masse
sich angelegen sein lassen. Die Wohlhabenden sind nämlich nicht in dem
Maße auf den öffentlichen Schutz angewiesen, sie haben selbst die Hilfe
eher zur Hand; dagegen hängen die Besitzlosen, ohne eigenen Boden unter
den Füßen, fast ganz von der Fürsorge des Staates ab.? - sagte Papst
Leo XIII. (RN 29). Die Kirche erhebt ihr Wort also an erster Stelle für
jene, die ihre eigenen Interessen und Bedürfnisse nicht artikulieren
und nicht verteidigen können.
Auch Papst Johannes Paul II. hebt die ?Option und
vorrangige Liebe für die Armen? hervor. ?Heute muß angesichts der
weltweiten Bedeutung, die die soziale Frage erlangt hat, diese
vorrangige Liebe mit den von ihr inspirierten Entscheidungen die
unzähligen Scharen von Hungernden, Bettlern, Obdachlosen, Menschen ohne
medizinische Hilfe und vor allem ohne Hoffnung auf eine bessere Zukunft
umfassen: ... an ihnen vorbeizusehen, würde bedeuten, daß wir dem »
reichen Prasser« gleichen, der so tat, als kenne er den Bettler Lazarus
nicht, »
der vor seiner Tür lag«
?. (SRS 42).
?Die Kirche ist sich heute mehr den je bewußt, daß
ihre
soziale Botschaft mehr im Zeugnis der Werke als in ihrer
inneren Folgerichtigkeit und Logik Glaubwürdigkeit finden wird. Auch
aus diesem Bewußtsein stammt ihre vorrangige Option für die Armen, die
nie andere Gruppen ausschließt oder diskriminiert. Es handelt sich um
eine Option, die nicht nur für die materielle Armut gilt, da
bekanntlich besonders in der modernen Gesellschaft viele Formen nicht
bloß wirtschaftlicher, sondern auch kultureller und religiöser Armut
anzutreffen sind. Ihre Liebe zu den Armen, die entscheidend ist und zu
ihrer festen Tradition gehört, läßt die Kirche sich der Welt zuwenden,
in der trotz des technisch-wirtschaftlichen Fortschritts die Armut
gigantische Formen anzunehmen droht.? (CA 57).
Die drei Grundpfeiler der
Soziallehre
der Kirche
24. Drei Grundpositionen sind von der
Soziallehre
der Kirche besonders hervorzuheben. Sie müssen bei jeder
gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Reformmaßnahme vor Augen
gehalten werden, wenn diese ihr Ziel, das Allgemeinwohl, erreichen
wollen. Diese sind: an erster Stelle die Würde der menschlichen
Person, das Prinzip der Solidarität und das Prinzip der
Subsidiarität.
Der Ausgangspunkt der katholischen Soziallehre ist
die
menschliche Person, die zugleich Individuum und gesellschaftliches
Wesen ist. Für die Person sind beide Bestandteile unentbehrlich. ?Die
Würde des Menschen wurzelt in seiner Erschaffung nach Gottes Bild und
Ähnlichkeit, sie kommt in seiner Berufung zur Seligkeit Gottes zur
Vollendung.? (KEK 1700). ?Wurzelgrund nämlich, Träger und Ziel aller
gesellschaftlichen Institutionen ist und muß auch sein die menschliche
Person.? (GS 25). Niemand hat das Recht, die Person für das angebliche
Wohl der Gesellschaft aufzuopfern, aber auch umgekehrt gilt: auch das
Individuum wird verstümmelt, wenn es sein Selbstinteresse und sein
soziales Sein voneinander isoliert behandelt.
Die Achtung der Person, die menschliche Würde
gebührt jedem Menschen, wie hilflos er auch sein mag, unabhängig davon,
ob diese Hilflosigkeit die Folge des Mangels an körperlicher Kraft, der
politischen oder wirtschaftlichen Machtlosigkeit, der Obdachlosigkeit
oder eben moralischer Schwächen und Sünde der Person ist. Die
Kirche tritt für die Ausgestoßenen, für die sozial Entwurzelten
ein, wendet sich gegen jede Diskriminierung, und tritt für die
Förderung der Chancengleichheit ein. Sie hält es für sinnlos und
schädlich, wenn zwischen ?würdigen? und ?unwürdigen? Armen, zwischen
?aus eigenem Fehler? und ?unschuldig? an den Rand der Gesellschaft
geratenen Menschen unterschieden wird. Es muß freilich verhindert
werden, daß einige auf Kosten von anderen schmarotzen, aber in erster
Linie so, daß alle zu Ehrlichkeit und Verantwortung erzogen werden.
25. Das zweite Grundprinzip der Soziallehre ist die Solidarität.
Der Mensch kann sich mit Hilfe der Gesellschaft entfalten. Er ist auf
andere angewiesen, zugleich ist er verpflichtet zum Aufbau der
Gesellschaft beizutragen, das Leben anderer helfend zu begleiten. Das
Prinzip der Solidarität setzt eine Ordnung der Gesellschaft und
geregelte Organisationen voraus, und es verlangt die gegenseitige Hilfe
der Menschen, die Festlegung und die dauernde Verbesserung der Formen
des Zusammenlebens. Solidarität bedeutet Gemeinschaftsbildung, die
Weiterentwicklung der Gesellschaft, die Erhöhung der Funktionsfähigkeit
ihrer Organisation, Verantwortung für konkrete Personen, für Probleme
und Verfahrensweisen. Das Prinzip der Solidarität umfaßt aber auch mehr
allgemeingültige gesellschaftliche und ethische Normen: den Dienst am
Gemeinwohl und den Einsatz für die Gerechtigkeit.
Die Forderung der Solidarität in der christlichen
Soziallehre ist ein Ausdruck der Liebe. Auf die konkrete Wirklichkeit
unserer Zeit angewandt wird damit der Wunsch ausgesprochen, daß jeder,
der - aus welchem Grund auch immer - an den Rand der Gesellschaft
geraten ist, Hilfe zum menschenwürdigen Leben bekommen soll.
26. Der dritte Grundpfeiler der christlichen
Soziallehre
ist das Prinzip der Subsidiarität: ?wie
dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen
eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der
Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die
Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen
leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und
übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen; zugleich ist es
überaus nachteilig und verwirrt die ganze Gesellschaftsordnung. Jedwede
Gesellschaftstätigkeit ist ja ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär;
sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber
niemals zerschlagen oder aufsaugen.? (QA 79). Daraus folgt, daß ?bei
allen daher der Wille zur Mitwirkung an gemeinsamen Werken geweckt
werden muß.? (GS 31).
27. Die Prinzipien der Solidarität und der
Subsidiarität müssen in jeder gesunden Gesellschaft verwirklicht werden.
Es ist in Ungarn noch viel zu tun, damit diese Prinzipien auch hier
durchgesetzt werden. Dieses erfolgt nicht automatisch mit der
Umstrukturierung des wirtschaftlichen oder des politischen Lebens. Wir
müssen dazu unsere eigene Denk- und Lebensweise grundlegend verändern.
Eine neue Auffassung vom Leben soll zur Geltung gebracht werden, die
initiativ, fleißig und sparsam ist, die die Mitmenschen respektiert,
und mit ihnen die Gemeinschaft akzeptiert.
Der Parteistaat mit seiner übermässigen Macht hat
in den
letzten Jahrzehnten paternalistisch für seine Untertanen gesorgt und
diese dabei von der Möglichkeit des unabhängigen Denkens, der
Zivilinitiative und des freien und verantwortungsvollen Handelns
beraubt. Aus dem Prinzip der Subsidiarität folgt, daß die Notleidenden
Hilfe nicht nur von Anderen erwarten, sondern auch sie selber ihr
Bestes tun sollen, um vorwärtszukommen. Das kann aber keineswegs
bedeuten, daß der Staat diejenigen auf sich selbst angewiesen sein
läßt, die - aus irgendeinem Grund - unfähig sind, für sich zu sorgen.
Notfalls soll, unter Beachtung der sozialen Aspekte, in die Wirtschaft
eingegriffen werden, besonders dann, wenn die Institutionen, die sowohl
dem Allgemeinwohl als auch den einzelnen Personen dienen sollen, auf
Privatinitiativen nicht entstehen. Die umfassende Rechtsordnung soll
für die Hilfsbedürftigen sorgen. Man braucht Gesetze, die verhindern,
daß solche Menschen (lokale Minderheiten, Behinderte, Invaliden) auf
irgendeinem Gebiet des wirtschaftlichen, politischen, kulturellen und
alltäglichen Lebens in das gesellschaftliche Abseits geraten.
Mit der Erweiterung der Marktmechanismen soll die
Gesellschafts- und Sozialpolitik auch die Werte der gesellschaftlichen
Gerechtigkeit und der Fairneß vor Augen haben, auf eine Weise daß diese
im Einklang mit den Anforderungen der Marktwirtschaft bzw. mit den
langfristigen Interessen der ganzen Gesellschaft stehen. So entsteht
dann die soziale Marktwirtschaft. Die Umwandlung ist schwer und
langsam, der Prozeß kann und soll aber mit adäquaten Maßnahmen
angespornt und beschleunigt werden.
Verantwortungsübernahme und
Initiative
28. ?(Aber) unmöglich kann die Kirche des von Gott
ihr
übertragenen Amtes sich begeben, ihre Autorität geltend zu machen,
nicht zwar in Fragen technischer Art, wofür sie weder über die
geeigneten Mittel verfügt, noch eine Sendung erhalten hat, wohl aber in
allem, was auf das Sittengesetz Bezug hat.? (QA 41). Mit dieser
Feststellung vor Augen skizzieren wir einige Empfehlungen.
29. Die Regierung, die Selbstverwaltungen der
Gemeinden,
die Zivilorganisationen, die Gewerkschaften als Interessenvertretungen
der Arbeitnehmer, und die Arbeitgeber sollten ein aufeinander
abgestimmtes und konsequentes Programm gegen die Verarmung und
gegen die gesetzwidrige Vermögensbildung erarbeiten.
30. Wir brauchen eine moderne soziale
Marktwirtschaft, die die Wohlfahrtsprinzipien und rationale
Anforderungen der Wirtschaft kombiniert. Deren Grundbedingung ist
aber, daß die Wirtschaftpolitik mit der Sozialpolitik zusammen
ausgearbeitet und entwickelt wird, damit die Wirtschaftspolitik nicht
alleinbestimmend werden kann. Die Wirtschaftsentwicklung und das
Reichtum dürfen nicht Selbstzweck werden, sie müssen dem Menschen, der
ganzen Gesellschaft dienen. Die ganze Bevölkerung soll als das
gemeinsame Gut und als der Hauptwert der Gesellschaft angesehen werden.
Am Gemeinwohl ist auch das Kind, die Familie, der Greis, der
Schwerbehinderte beteiligt. Jedes Mitglied der Gesellschaft muß sich,
im gerechten Anteil, an ihrem Schutz und Pflege und an der Deckung der
damit entstandenen Kosten beteiligen. Jene Entwicklung, wonach die
Lebenschancen der Gruppen, die ihre wirtschaftliche und
gesellschaftliche Nachteile aus eigener Kraft nicht abarbeiten können
sich ständig verringern, soll, soweit es geht, aufgehalten werden,
damit diese Gruppen ein menschenwürdigeres Leben beginnen und sich in
die Gesellschaft integrieren können.
31. Die Wirksamkeit der Institutionen der
Sozialpolitik
wird auch von vielen weiteren Faktoren wesentlich beeinflußt, besonders
von dem System verschiedener Hilfsleistungen. Eine wichtige und
dringende Aufgabe ist es daher unter anderem, die Entwicklung der
Wohnungspolitik, der staatlichen Bildungs- und Beschäftigungspolitik,
die Sozialversicherung und das System der freiwilligen ergänzenden
Versicherung, bzw. die soziale Unterstützung miteinander und mit der
Tätigkeit von gesellschaftlichen Selbsthilfegruppen und sozialen
Bewegungen in Einklang zu bringen. Die Tätigkeit der freiwilligen
Hilfsorganisationen soll unterstützt werden. Das System der staatlichen
Unterstützungen soll überprüft werden, damit dieses niemanden demütigt,
die menschliche Würde nicht beeinträchtigt, und damit es neben der
konkreten Hilfe sich darum bemüht die Notleidenden auch im menschlichen
und materiellen Sinn auf die Beine zu stellen. Den ärmsten muß zu einem
minimalen, jedoch das Existenzminimum erreichenden Einkommen verholfen
werden, und zwar so, daß es für die anderen Mitglieder der Gesellschaft
keine unzumutbare Belastung darstellt. Während der Umstrukturierung der
Wirtschaft und der Gesellschaft soll der Staat besonders darauf acht
geben, diejenigen von der Verarmung und von dem Verlust ihres sozialen
Statuses zu bewahren, die sich und ihre Familie aus ehrlicher Arbeit
unterhalten.
32. Die Kirche stellt fest, daß jeder einzelne nicht
nur
die Verpflichtung zu gewissenhafter Arbeit, sondern ?auch das Recht auf
Arbeit? (GS 67) hat. Es ist die Aufgabe der Gesellschaft und des
Staates, ?die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, die in jedem Fall ein Übel
ist, und, wenn sie große Ausmaße annimmt, zu einem echten sozialen
Notstand werden kann.? (LE 81/18.1). Die Sorge der Abnahme der
Arbeitslosigkeit ?obliegt dem Staat, das darf jedoch nicht darauf
hinauslaufen, alle Zuständigkeiten der öffentlichen Gewalt
vorzubehalten und auf sie zu häufen.? (LE 82/18.2). Dieser Kampf um die
Schaffung von Arbeitsplätzen muß auch dann weitergeführt werden,
wenn die staatlichen und unabhängigen Organisationen auf unzählige
Hindernisse stoßen. Es sollen weiterhin auch die Arbeitgeber motiviert
werden neue Arbeitsplätze zu schaffen.
33. Die Reform der Sozialversicherung ist
unvermeidbar, sie ist aber so durchzuführen, daß sie keiner einzigen
Schicht der Gesellschaft einen unzumutbaren Nachteil verursacht. Für
die Zukunft soll ein mehrschichtiges System der Versicherungen und
Renten ausgearbeitet werden, um damit die finanzielle Sicherheit der
Mittelschichten und das Funktionieren des sozialen Netzes für die Armen
zu garantieren.
34. Die Kirche hält die Familie für die
wichtigste elementare Zelle der Gesellschaft. Die Institution der
Familie spielt eine entscheidende Rolle in der Gesellschaft, da sie als
grundlegende Zelle nicht nur eine wirtschaftliche Einheit darstellt,
sie ist auch der wichtigste Ort der seelischen Entwicklung des Menschen
und der Weitergabe der Kultur. Hier eignet sich das Kind die Werte an,
mit Hilfe derer es ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft werden
kann. ?Die Familie soll so leben, daß ihre Mitglieder lernen, sich um
Junge und Alte, um Kranke, Behinderte und Arme zu kümmern. (...) Die
Familie ist durch geeignete soziale Maßnahmen zu unterstützen und zu
schützen. (...) Die Staatsgewalt hat es als ihre besondere Pflicht
anzusehen »
die wahre Eigenart von Ehe und Familie anzuerkennen, zu hüten und zu
fördern, die öffentliche Sittlichkeit zu schützen und den häuslichen
Wohlstand zu begünstigen« (GS 52,2).? (KEK 2208-2210).
35. Die Kirche setzte sich - wie überall in
der
Welt, so auch bei uns in Ungarn - zur Aufgabe, hilfsbereit, aber
kritisch und mit den evangelischen Werten vor Augen, den im Lande
ablaufenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen mit
Aufmerksamkeit zu folgen, die Anomalien des politischen und
wirtschaftlichen Lebens kritisch zu betrachten, und notfalls gegen jede
Form der Diskriminierung und Ungerechtigkeit zu protestieren, um in
erster Linie die Ärmsten, die Ausgestoßenen, die Verelendeten zu
schützen. Zusätzlich dazu unternimmt sie alles um, sofern ihre Kräfte
reichen, sich selbst an der Minderung der Schwierigkeiten und an der
Linderung der Leiden der Betroffenen zu beteiligen.
36. Die Nächstenliebe fordert Opfer, die
institutionelle
und individuelle Beteiligung an den Schwierigkeiten des Anderen. Wir
rufen all unsere Gläubigen, Priester, Kirchgemeinden und kirchliche
Gemeinschaften, und alle Menschen guten Willens auf, um ihren Teil im
Kampf gegen Unbeholfenheit, soziale Vereinsamung, Hilfsbedürftigkeit
und Verelendung zu leisten. Sie sollen auf der Ebene, wo sie leben
und arbeiten, soziale Programme erarbeiten und verwirklichen. Eine
besonders große Verantwortung ruht auf denjenigen Christen, die sich
auf nationaler oder auf regionaler Ebene am öffentlichen Leben oder an
der Politik beteiligen.
Der barmherzige Samariter, der einem Notleidenden
hilft
ist ein Musterbild der selbstlosen und opferbereiten Nächstenliebe.
Eine solche personbezogene Aufmerksamkeit ist aber nur geeignet um
wenige Menschen zu retten. Heute sind wir jedoch mit einer so großen
Zahl an Hilfsbedürftigen konfrontiert, und in Kontrast dazu ist die
Zahl der Helfenden so gering, daß wir Wege finden müssen auch institutionelle,
organisierte Formen der Nächstenliebe aufzubauen, die Interessen
der Armen in der Gesellschaft zu vertreten, und soziale Programme zu
erarbeiten und umzusetzen.
37. Die erwähnten Schwierigkeiten und Sorgen knüpfen
eng
an das Wirtschaftsleben Ungarns an. Es ist also unumgänglich, auch
darüber zu sprechen, denn die wirtschaftliche Situation bestimmt auf
vielen weiteren Gebieten unsere Handlungsmöglichkeiten.
Selbstverständlich ist es auch hier nicht unser Ziel, eine ausführliche
Analyse der Wirtschaft zu geben. Wir wollen lediglich die
Aufmerksamkeit auf jene Erscheinungen lenken, die unsere grundlegenden
Werte unmittelbar oder mittelbar beeinflußen.
Das Erbe der Vergangenheit und
die
weltwirtschaftliche Lage
38. Schon aus dem vorangehenden Kapitel wurde
ersichtlich, daß die schädlichste und gefährlichste Konsequenz der
wirtschaftlichen Veränderungen der letzten Jahre in der Zunahme der
gesellschaftlichen Ungleichheit besteht. Breite
Gesellschaftsschichten sind an die Grenze der Armut oder sogar darunter
geraten. Es ist zu befürchten, daß in diesem Prozeß eine so große Kluft
zwischen den Gesellschaftsschichten entsteht, daß diese die
Verwirklichung der sozialen Marktwirtschaft auf lange Sicht behindert.
Die Zunahme der gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten kann auch die
Entwicklung der Wirtschaft hindern.
Auch die Ungleichheit zwischen den einzelnen
Regionen, insbesondere zwischen den westlichen und östlichen
Hälften Ungarns, sowie zwischen den Großstädten, insbesonders Budapest
und den kleinen Dörfern haben sich dramatisch zugespitzt. Im östlichen
Teil Ungarns ist z.B. die Arbeitslosenrate dreimal so hoch, wie in den
westlichen Bezirken. In diesen wirtschaftlich zurückgebliebenen
Gebieten konnten nicht einmal die zur Verfügung stehenden bescheidenen
Mittel effektiv verwendet werden.
39. Viele neigen heutzutage dazu zu vergessen, was
für schwere Lasten wir geerbt haben. Aus der vom Parteistaat
gezeichneten Vergangenheit erinnern sie sich nur noch an die
Existenzsicherheit und an die garantierten Arbeitsplätze. Obwohl die
sogenanten ?sozialistischen Länder? Mittel- und Osteuropas nach
anfänglichen, bescheidenen Fortschritten, in den vergangenen
Jahrzehnten viel von ihrer relativ günstigen weltwirtschaftlichen
Position verloren haben. Beispielsweise übertraf das
Brutto-Nationalprodukt (GDP) der Länder des Mittelmeerraumes in 1973
lediglich um rund 25 Prozent das GDP der damaligen sozialistischen
Länder, während diese Zahl heute bei über 200 Prozent liegt. Der
Unterschied der Einkommensniveaus in Ungarn und in den westlichen
Industrieländern wuchs von 1:2 auf 1:4. Ein ähnlicher Rückfall kann
beobachtet werden, wenn man den Weg Ungarns mit dem Österreichs oder
Finnlands vergleicht.
Der internationale Vergleich zeigt sehr
anschaulich, daß
es in der ungarischen Wirtschaft grundlegende Probleme gegeben hat.
Die Unternehmen und Betriebe in der sozialistischen Planwirtschaft
durchliefen eine von den wahren Marktverhältnissen entfremdete,
verzerrte Entwicklung. Die sozialistischen Länder haben die Qualität
und Effektivität außer Acht gelassen. Sie haben ausschliesslich
quantitative Kriterien in den Vordergrund gesetzt und haben ihre
woanders unverkäufliche Produkte gegenseitig auf den Märkten
voneinander untergebracht. Wegen der kontinuierlichen Mangelwirtschaft
nahmen diese Märkte alles auf, so daß die Unternehmen und Betriebe
durch nichts zu Entwicklungsanstrengungen und zur wirtschaftlichen
Effektivität gezwungen waren. Die betrieblichen Mittel und auch das
geistige Kapital der Unternehmen haben sich im Zustand der ?kollektiven
Verantwortungslosigkeit? entwertet. Nicht nur die Struktur der
Wirtschaft hat sich verzerrt, sondern auch die Marktformen haben, als
sich der Parteistaat im Jahre 1968 für Wirtschaftsreformen entschied,
auf eine verzerrte Art, lediglich in der ?zweiten? und in der
Schwarzwirtschaft einen Platz bekommen.
Der Grundgedanke der Diktatur des ungarischen
Parteistaates bestand darin, daß sich die Bevölkerung als Gegenleistung
für den relativen Wohlstand nicht in die Politik einmischen und die
Macht der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei still ertragen
soll. Nach der Ölpreisexplosion im Jahre 1973 hat die damalige
Regierung Ungarns die Durchführung der notwendigen strukturellen
Änderungen versäumt, so war die Wirtschaft nicht mehr imstande, in der
sich fortwährend verschlechternden Situation, die Bedingungen des
relativen Wohlstandes weiter zu sichern. Um ihre politische Macht zu
sichern haben die führenden Politiker ausländische Kredite aufgenommen,
die jedoch nicht für die Förderung der Wirtschaft, sondern für die
Aufrechterhaltung der nicht effektiven Wirtschaftsstruktur und für die
Wahrung des Lebensniveaus verwendet wurden. Die Schulden und die
dazugehörigen Zinsen müssen jetzt zurückgezahlt werden.
40. Zusätzlich zu den Lasten der
Vergangenheit entsteht auch daraus eine weitere Schwierigkeit, daß die
gegenwärtigen Veränderungen in einem veränderten
weltwirtschaftlichen Umfeld vor sich gehen. Das wirtschaftliche
Wachstum ist auch in West-Europa zurückgegangen, die Gesellschaft ist
alt geworden, sie kann das gewohnte Niveau der Wohlstandsleistungen
nicht mehr aufrechterhalten. Ungarn schliesst sich somit einem
Wirtschaftsraum mit einer kleinen Wachstumsrate an, von wo also das
Land weniger Hilfe, jedoch einen härteren Wettbewerb erwarten kann, als
jene Länder, die sich in den 80er Jahren der EG angeschlossen haben.
Diese Zusammenhänge sind unter der Bevölkerung sehr
wenig bekannt. Heute haben wir nicht einmal darüber einen ausreichenden
Überblick, was die Integration bedeutet und welche Konsequenzen sie für
alle Schichten der ungarischen Bevölkerung hat. Es gibt keine
ernstzunehmende Alternative für unseren Anschluss an die
Europäische Union. Schwere Herausforderungen werden aber entstehen
durch den voraussehbar stärkeren Wettkampf, auch den Platz unserer
Landwirtschaft in dem überfüllten europäischen Agrarmarkt betreffend,
und wegen dem Angleichungsdruck bei der Harmonisierung der
Rechtsvorschriften.
Die gegenwärtige wirtschaftliche
Situation
41. Das Ziel der Wende bestand im Ausbau der sozialen
Marktwirtschaft. Dieses bedeutet soviel, daß die schädlichen
Konsequenzen der Tätigkeit des Marktes bei jenen
Gesellschaftsschichten, die nicht imstande sind, in dem auf dem Markt
stattfindenden Wettbewerb teilzunehmen, (Kinder, alte Menschen,
Behinderte, Arbeitslose, kinderreiche Familien) vom Staat korrigiert
und ausgeglichen werden. Zahlreiche grundlegende Institutionen der
sozialen Marktwirtschaft sind in den vergangenen Jahren tatsächlich
errichtet worden. Die Umwandlung geht jedoch viel langsamer, und mit
weit mehr schmerzvollen Nebenwirkungen als erwartet, vor sich.
Die Bewertung der gegenwärtigen wirtschaftlichen
Situation ist auch in Kreisen von Fachleuten widersprüchlich. Wir alle
erleben jedoch, daß die Veränderungen - wahrscheinlich zwangsläufig -
einen grossen wirtschaftlichen Rückfall zur Folge hatten. In
1993 betrug das GDP nur 82 Prozent von dem des Jahres 1989. Seitdem ist
es leicht angestiegen. In den vergangenen Jahren ist auch das
Lebensniveau der Mehrheit der Bevölkerung gesunken. Der Realwert der
Gehälter hat seit 1978 nie wieder den damaligen Spitzenwert erreicht;
in 1993 betrug dieser Wert nur 77 Prozent des Niveaus vom Jahre 1978.
Das Pro-Kopf Realeinkommen war im Jahre 1993 rund 89 Prozent von dem
des Jahres 1989; in 1994 stieg das Realeinkommen leicht an, seit 1995
geht es jedoch wieder zurück.
42. Eine große Last der ungarischen Wirtschaft ist die
Verschuldung des Staates. Die Auslandsschulden übertrafen Ende 1995
brutto 31 Milliarden USD, während die Nettoschulden 16,8 Milliarden USD
betrugen. Die Wurzeln der Probleme reichen weit zurück. Die
aufgenommenen Kredite wurden nicht wirksam verwendet, es folgten immer
neue Kreditaufnahmen mit immer mehr ansteigenden Zinslasten. In 1993
sind auch die inländischen Staatsschulden besorgniserregend
angestiegen. (Im Jahre 1990 betrugen sie HUF 1.412 Milliarden. Bis Ende
1994 stiegen sie auf HUF 3.755 Milliarden. Die Zinslasten betragen
gegenwärtig 30 Prozent der Staatshaushaltsausgaben.)
43. Die Inflation liegt seit Jahren über 20
Prozent. Das hat nicht nur für die Wirtschaft schädliche Konsequenzen,
sondern trifft fortlaufend die Lohn- und Gehaltsempfänger, die Rentner,
die Familien mit Kindern. Die Inflation vergrössert die Ungleichheit in
der Gesellschaft.
44. Eine positive Entwicklung besteht darin, daß
nach
überzeugend klingenden Daten auf der betrieblichen Ebene eine
Strukturveränderung eingesetzt hat mit einem Ansteigen der
Produktivität. Ein wichtiges Element hierbei ist das
hineinströmende ausländische Kapital, das jedoch sichtlich von
unterschiedlichen Motiven geleitet wird, die nicht unbedingt mit den
Fernzielen der ungarischen Gesellschaft übereinstimmen. Die Bedeutung
des ausländischen Kapitals ist in Ungarn, im ost-mitteleuropäischen
Vergleich, besonders groß. Von den 200 größten ungarischen Unternehmen
arbeiten rund 110 unter ausländischer Kontrolle.
45. Der Prozess der Privatisierung ist
ebenfalls
voll von widersprüchlichen Elementen. Es war von vornherein
vorgegeben, daß keine eindeutige und befriedigende Grundprinzipien für
die Privatisierung formuliert werden konnten, da die
Eigentumsverhältnisse sich in den Stürmen der Geschichte so
unübersehbar und chaotisch verändert haben, daß die Wiederherstellung
der alten Verhältnisse unmöglich war, obwohl viele - darunter auch
politische Parteien - solche Illusionen hegten. Der Schadenersatz
brachte wegen der Eigentümlichkeiten, unter denen es praktiziert wurde,
wenig wahre Werte für die Betroffenen. Die große Mehrheit der sog.
?Schadenersatz-Scheine? kam letzten Endes nicht in den Besitz der
ursprünglichen, gesetzlich zum Schadenersatz berechtigten Eigentümer.
Vorteile hatten die Betriebsleitungen, die zum Eigentümer der Aktien
wurden oder staatliche Institutionen und Behörden, die die
Privatisierung abwickelten: die Bevölkerung bekam von den Prozessen so
viel mit, daß dabei riesige, unkontrollierbare Vermögen entstanden
sind. Die wirtschaftliche und politische Elite zeigt in ihrer Haltung
und in ihrem Konsumverhalten wenig Solidarität mit den Armen. Der
Motor der sozialen Marktwirtschaft wäre ein Unternehmer mit rationaler
Wirtschaftsführung, der Investitionen und Innovationen anstrebt, jedoch
seiner Verantwortung den Konsumenten, den Arbeitnehmern und der Umwelt
gegenüber bewusst ist. Wir sehen jedoch wenig Zeichen einer
solchen Haltung in Ungarn. Die wichtigsten Machtpositionen der
ungarischen Wirtschaft befinden sich zum Teil in der Hand von
Aktiengesellschaften (mit staatlicher Mehrheit und gemischten
Eigentumsverhältnissen), zum Teil im Besitz von Geschäftsleuten des
illegalen Schwarzmarktes. Ihnen gegenüber steht die große Anzahl von
Kleinunternehmer, die mit hohen Steuern belastet um das Überleben
kämpfen. Die stabile, wohlhabende Mittelschicht ist sehr schmal.
Die schwarze und die
Schattenwirtschaft
46. Ein gefährlicher Nebeneffekt der
wirtschaftlichen
Umgestaltung besteht in der raschen Ausbreitung der Schwarzwirtschaft,
wo nach gemässigten Schätzungen gegenwärtig bereits 25-30 Prozent der
nationalen Bruttoproduktion hergestellt wird. Die Schwarzwirtschaft
bedeutet eine große Gefahr für die Gesellschaft. Die Arbeit, die ohne
Einzahlung der Steuer und Sozialversicherungsbeiträge sicherlich
billiger geleistet wird, verdrängt allmählich jene ehrlichen
Unternehmer, die in diesem Wettkampf in eine hoffnungslose Lage
gebracht werden. Sie versuchen anschliessend entweder auf dem
überfüllten Arbeitsmarkt eine Stelle zu finden oder aber beteiligen
sich ebenfalls an der Schwarzwirtschaft.
Viele entledigen sich den öffentlichen Lasten. Die
Lasten der ehrlichen Steuerzahler steigen deshalb allmählich auf ein
unerträgliches Ausmaß an. Es entsteht ein Teufelskreis: immer mehr
entziehen sich den allgemeinen Steuerpflichten, was dazu führt, daß der
immer enger werdende Kreis der aufrichtigen Steuerzahler noch mehr
zahlen muß. Das mindert wiederum die Chancen des Wirtschaftswachstums
und trägt indirekt zur weiteren Ausbreitung der Schwarzwirtschaft bei.
Wie überall in der Welt, hängt auch bei uns die Schwarzwirtschaft eng
mit der organisierten Kriminalität und der Korruption zusammen. Über
die direkten, konkreten finanziellen Schäden hinaus bedeutet also die
Schwarzwirtschaft auch weitere Gefahren für die Gesellschaft.
Die Schattenwirtschaft bereitet ebenfalls ernste
Gefahren für die ehrlichen Beziehungen auf dem Markt. Die Lücken der
rechtlichen Regelungen ermöglichen, daß gewisse Handlungsweisen der
Wirtschaft zwar formal nicht rechtswidrig sind, anderen
nichtsdestoweniger Schaden zufügen können und auch die Einnahmen des
Staatshaushaltes verkürzen.
47. Ungarn ist seinen Naturgegebenheiten nach ein
hervorragendes landwirtschaftliches Gebiet. Die Wende hat für die
Bauern zunächst große Hoffnungen, doch bald Enttäuschungen gebracht.
Die Halblösung der Handhabe des Schadenersatzes verursachte eine
mehrjährige, bis heute andauernde Unsicherheit. Die Vermögensstruktur
hat sich nach der Privatisierung bis zum Unendlichen verkleinert. Die
unumgängliche Umstrukturierung der früher erzwungenen
Produktionsgenossenschaften, die Privatisierung, sowie die Tatsache,
daß der größte Teil der Lebensmittelindustrie und des Handels in
ausländische Hand gegeben wurde, weiterhin der Kapitalmangel, die hohen
Zinsen der landwirtschaftlichen Kredite, der Abbau der Subventionen und
der Mangel des Schutzes des ungarischen Marktes haben die
Agrarwirtschaft auf einen Tiefpunkt gebracht. Die Investitionen sind
zurückgegangen, der Viehbestand erreicht nicht einmal das Niveau des
Jahres 1938, die landwirtschaftliche Produktion ist stark
zurückgegangen. Die Schwierigkeiten des Transformationsprozesses - die
Arbeitslosigkeit, der Mangel der Förderungsmittel - treffen
insbesondere die Kleinstgemeinden, vor allem in den stagnierenden
Regionen.
48. Was die Zukunft betrifft, wird
wahrscheinlich die Landwirtschaft die größten Schwierigkeiten haben,
weil der Anschluß an die Europäische Union die landwirtschaftliche
Produktion mit Sicherheit begrenzen wird, zumal Ungarn ein harter
Konkurrent der europäischen Produzenten werden könnte. Es muß damit
gerechnet werden, daß der Anteil der in verschiedenen Zweigen und
Gebieten der Landwirtschaft tätigen Bevölkerungsgruppen stark abnehmen
wird. Der Anteil der Arbeitslosigkeit in der Landwirtschaft ist bereits
heute bedeutend. Die neue Situation die sich aus dem Beitritt in die
Europäischen Union ergeben wird fordert für die Landwirtschaft (und für
die ganze Wirtschaft) eine positive und weitsichtige Strategie.
49. Der wirtschaftliche Anstieg hat die
Umwelt
weltweit verändert, und die Natur immer stärker beschädigt.
Die Vorherrschaft der Konsumorientierung hat die Welt zur Erschöpfung
ihrer Ressourcen nähergebracht und bedroht ernstlich die
lebenswichtigen natürlichen Subsysteme. Die totalitären politischen
Regime Zentral- und Ost-Europas haben sich noch weniger um den Schutz
der Umwelt als die westlichen Demokratien gekümmert. Demzufolge ist in
Ungarn die Bedrohung der Umwelt grösser geworden, als im Westen. Der
Zustand der natürlichen Umwelt hat sich zwar an manchen Gebieten seit
1990 verbessert, der Verschmutzungsprozess hat sich an den am stärksten
verschmutzten Regionen verlangsamt - insbesondere weil jene Betriebe
der Schwerindustrie die die Umwelt stark beschädigt haben und
gleichzeitig auch unrentabel waren zum Stillstand gebracht wurden -,
dennoch müssten zum Schutze der Natur und zur Erhaltung der
Naturschätze noch grosse Aufgaben gelöst werden. Diese Probleme werden
auch dadurch erhöht, daß die Mehrheit der Bevölkerung sich der
Wichtigkeit des Naturschutzes nicht bewußt ist. Es ist eine
bedauernswerte Tatsache, dass die Aufmerksamkeit und Energie der
Teilnehmer der politischen und der wirtschaftlichen Sphäre gleichfalls
von der Lösung kurzsichtiger wirtschaftlicher Probleme gefesselt wird.
Ein positives Zeichen ist, daß die Politiker zumindest in
Verbaläusserungen sich der Wichtigkeit dieser Probleme bewußt sind. Die
langfristige Denkweise fehlt jedoch in den meistens Fällen, auch wenn
es um grundlegende, existentielle Interessen geht.
50. Die Situation der natürlichen Umwelt in
Ungarn ist widersprüchlich. An vielen Stellen gibt es die
Gesundheit ernstlich schädigende Verschmutzungen (die Umgebung von
Industriegebieten, illegale Mülldeponien, Großstädte, mit Chemikalien
überlastete, unkontrolliert behandelte landwirtschaftliche Gebiete,
Kasernen, etc.). Besonders ernste Schäden können in der Umgebung von
Unternehmen mit Grössenwahn festgestellt werden. Es ist jedoch
erfreulich, daß viele Gebiete ihr ursprüngliches Gesicht beibehalten
haben. Wo man wegen Geldmangel nicht imstande war industrielle Methoden
in der landwirtschaftlichen Produktion einzuführen, dort konnten die
der natürlichen nahe stehenden Lebensstrukturen erhalten bleiben.
Innerhalb kurzer Zeit konnten in diesen Regionen fünf Nationalparks
errichtet werden, und weitere Landschaften konnten unter Schutz
gestellt werden.
Ein wesentliches Problem des Naturschutzes besteht
darin, daß wenig Geld für die Behebung der verursachten Schäden
aufgebracht und noch weniger für die Einführung umweltschützender
Maßnahmen ausgegeben wird. Hier muß auf die Gefahr aufmerksam gemacht
werden, daß die entwickelten Industrieländer sich bemühen, ihre
veralteten Technologien und ihren Müll nach Ungarn zu exportieren. Dazu
kommt noch die Tatsache, daß auf die Privatisierung vielerorts eine die
Natur ausbeutende Wirtschaftsweise folgt.
Die Rolle der Wirtschaft in der
Gesellschaft
51. Die traditionellen Indizes des
Wirtschaftswachtums
(wie zum Beispiel das GDP, das brutto Nationalprodukt, die jährliche
Zuwachsrate, usw.) können weder die wahre wirtschaftliche Entwicklung
des Landes, noch die Erschöpfung der natürlichen Rohstoffe ausdrücken.
Die Bemühung, unter allen Umständen ein Ansteigen dieser Kennziffer zu
erreichen führte weltweit dazu, daß sich der Zustand der Umwelt und die
Lebensqualität verschlechterten. Für die Sicherung der Bedingungen und
für die Festlegung der Richtung des wahren, ?aufrechterhaltbaren?
Wachstums sollen ein neues Bewertungssystem der Nationalökonomie
und neue Kriterien der Ergebnisse zur Anwendung kommen.
52. Die katholische Soziallehre erkennt einerseits
die
Autonomie und die eigenständige Entwicklungsgesetze der Wirtschaft als
einer Sphäre der Gesellschaft; andererseits jedoch weist sie eindeutig
jene Auffassung zurück, die von dieser relativen Unabhängigkeit
ausgehend kein anderes Maß der Wirtschaft anerkennt, als die
Verwirklichung der Eigeninteressen von Individuen und Gruppen. ?Alle
wirtschaftliche Tätigkeit ist - nach den ihr arteigenen
Verfahrensweisen und Gesetzmäßigkeiten - immer im Rahmen
der sittlichen Ordnung (...) auszuüben.? (GS 64).
Wir können also nicht schweigend akzeptieren, daß
die Entscheidungen
allermeist nur den kurzfristigen Interessen verschiedener
Interessengruppen entsprechend und gewissermaßen zufällig getroffen
werden auch wenn dabei das Schlagwort der sozialen Marktwirtschaft
betont wird und auch das nicht, daß die Wirtschaftspolitik seit Jahren
unter dem Druck augenblicklicher Zwänge weitergetrieben wird. In der
oben beschriebenen, schweren Situation der Wirtschaft könnte nur dann
eine Veränderung eintreten, wenn einerseits, in der Suche nach
Lösungen, die Leiter der Wirtschaftspolitik und alle Teilnehmer des
Wirtschaftslebens die notwendige Demut, Offenheit und Selbstlosigkeit
aufbringen würden - zumal niemand ein wirtschaftspolitisches
Wundermittel besitzt -, und wenn andererseits die betreffenden
Interessengruppen eine nüchterne Selbsteinschränkung und Mäßigung
aufbringen würden. Ohne dies wird eine unerträgliche Konzentration der
wirtschaftlichen Macht entstehen.
53. Grundlegendes Ziel der Wirtschaft und
?die fundamentale
Zweckbestimmung dieses Produktionsprozesses besteht aber weder
in der vermehrten Produktion als solcher noch in der Erzielung von
Gewinn oder Ausübung von Macht, sondern im Dienst am Menschen,
und zwar am ganzen Menschen, im Hinblick auf seine materiellen
Bedürfnisse, aber ebenso auch auf das, was er für sein geistiges,
sittliches, spirituelles und religiöses Leben benötigt.? (GS 64).
Die Kirche hat in den vergangenen hundert Jahren
konsequent beide einseitigen Vorstellungen der Organisation der
Wirtschaft abgelehnt: sowohl den Kollektivismus, als auch den
ausschließlich auf freien Wettbewerb basierenden liberalen
Kapitalismus. ?Niemals darf der wirtschaftliche Fortschritt der
Herrschaft des Menschen entgleiten; ebensowenig darf er der
ausschließlichen Bestimmung durch wenige mit übergroßer
wirtschaftlicher Macht ausgestattete Einzelmenschen oder Gruppen noch
auch durch den Staat, noch durch einige übermächtige Nationen
ausgeliefert sein.? (GS 65). 1991 wurde es noch als eine ?Nörgelei?
angesehen, als Johannes Paul II., nach dem eindrucksvollen Sieg des
Kapitalismus, in seiner Enzyklika Centesimus annus es für
unangebracht hielt, die Frage nach dem erwünschten Gesellschaftsystem
einseitig mit einem Modell zu beantworten. ?Die Antwort ist natürlich
kompliziert. Wird mit »
Kapitalismus« ein Wirtschaftssystem bezeichnet, das die grundlegende
und positive Rolle des Unternehmens, des Marktes, des Privateigentums
und der daraus folgenden Verantwortung für die Produktionsmittel, der
freien Kreativität des Menschen im Bereich der Wirtschaft anerkennt,
ist die Antwort sicher positiv. (...) Wird aber unter »
Kapitalismus« ein System verstanden, in dem die wirtschaftliche
Freiheit nicht in eine feste Rechtsordnung eingebunden ist, die sie in
den Dienst der vollen menschlichen Freiheit stellt und sie als eine
besondere Dimension dieser Freiheit mit ihrem ethischen und religiösen
Mittelpunkt ansieht, dann ist die Antwort ebenso entschieden negativ.
Die marxistische Lösung ist gescheitert, aber (...) es besteht die
Gefahr, daß sich eine radikale kapitalistische Ideologie breitmacht
(...), da sie die Lösung (dieser Probleme) in einem blinden Glauben der
freien Entfaltung der Marktkräfte überläßt.? (CA 42). Die Welt ist
inzwischen aus den Illusionen der Wende ernüchtert. Die Worte der
Enzyklika haben sich schmerzlich bestätigt.
54. Die multinationalen Unternehmen erfüllen
ihre
wahre Aufgabe erst dann, wenn sie auch die Ordnung der höher
entwickelten Wirtschaftssysteme mit sich bringen, und damit die hiesige
wirtschaftliche Kultur und Moral fördern. Es besteht immer die
Möglichkeit und die Versuchung dem schwächeren Wirtschaftspartner
gegenüber die eigene Überlegenheit spielen zu lassen. Die Lehre der
katholischen Kirche macht ausdrücklich aufmerksam darauf, daß die
Globalisierung der Weltwirtschaft mit der Globalisierung der
Verantwortung einhergeht. - Dies sollte auch den
Eigentümern des in Ungarn immer mehr gewichtigen ausländischen Kapitals
bewußt gemacht werden.
Die Aufgaben des Staates in der
Wirtschaft
55. Nach der katholischen Soziallehre hat der Staat
eine
wichtige Rolle beim Ausgleich der schädlichen Folgen des Marktes.
Die Soziallehre hat die gerechte Verteilung, d.h. eine gewisse
Minderung der materiellen Ungleichheit immer in den Begriff der
gesellschaftlichen Gerechtigkeit eingefasst. Im Kreis der
Wirtschaftsfachleute hat sich in den vergangenen Jahren die Ansicht
verbreitet, daß die Leistungen des Wohlfahrtstaates auf Grenzen stoßen,
weil sie die wirtschaftliche Entwicklung verhindern. Die Begrenzung der
Aufgaben des Staates ist freilich nicht gleichbedeutend mit dem Auszug
des Staates aus dem Wirtschaftsleben, zumal er das insitutionelle
System der Marktwirtschaft aufbauen und aufrechterhalten muß; die
Rechte der Bürger im Wirtschaftsleben verteidigen muß; und die Freiheit
des Wettbewerbs durch die Einschränkung der Monopole und durch die
Regelung des Wettkampfes sichern muß (CA 48).
56. Es ist von nationalem Interesse, daß die
ländliche und die sich aus der Landwirtschaft ernährende Bevölkerung
wieder einen festen Stand gewinnt, sich wirtschaftlich erholt und daß
ihr Gemeinschaftsleben und das System ihrer moralischen Werte sich
erneuern. Es steht im Interesse des ganzen Landes, daß immer mehr in
der Landwirtschaft tätige Staatsbürger jenen Boden, den sie bearbeiten
als ihr Eigentum ansehen können. Für dieses Ziel müssen sie genügend
geistige und materielle Unterstützung bekommen, damit unsere
Landwirtschaft wieder produktiv und effektiv wird.
Die moderne landwirtschaftliche Strategie bricht
mit der
Praxis der spezialisierten Produktherstellung. Heutzutage spricht man
lieber über Landschaftsnutzung. Damit wird ausgesagt, daß die
landwirtschaftliche Produktion nur dann auf lange Sicht existieren
kann, wenn anstelle eines einzigen Feldes der pflanzlichen Produktion
oder einer Tierfarm eine ganze Landschaft als eine Einheit angesehen
wird. Neben der landwirtschaftlichen Tätigkeit werden die harmonische
Entwicklung der Region, die Gründung neuer Unternehmen, die
Bewahrung wirtschaftlich nicht genützer Naturgebiete, die menschlichen
Beziehungen und die Bedeutung der lokalen Bräuche betont. Die
Landschaft und die Menschen sollen in harmonischer Beziehung
miteinander zusammenleben.
57. Nicht nur wegen der sozialen Frage, sondern auch
im
Interesse der wirtschaftlichen Zukunft muß verhindert werden, daß die
Gesellschaft endgültig in zwei Hälften zerbricht. Wenn unsere
Gesellschaft weiterhin einerseits aus einer schmalen Eliteschicht und
andererseits aus Massen, die am Rande der Gesellschaft leben, bestehen
wird, kann Ungarn in der Europäischen Union - wenn es ihm der Anschluß
überhaupt ermöglicht wird - lediglich in einer schutzlosen Lage sein
Leben fristen. Viele Deklarationen über die Wichtigkeit des Menschen
und über die Bildung als der Treibkraft des sozialen Systems sind in
den vergangenen Jahren vorgetragen worden. Es fehlte aber an wirksamen
staatlichen und gesellschaftlichen Anstrengungen, die die extreme
Zunahme der Chancenungleichheit hätten verhindern können. Das
endgültige Kriterium der Beurteilung jeder Reform des Staatshaushaltes
liegt gerade darin, ob diese neben der Dämmung der Kosten nicht die
Gefahr in sich trägt, daß die Zukunft ?aufgezehrt? wird. ?Es ist die
Aufgabe des Staates, für die Verteidigung und den Schutz jener
gemeinsamen Güter, wie die natürliche und die menschliche Umwelt, zu
sorgen, deren Bewahrung von den Marktmechanismen allein nicht
gewährleistet werden kann. Wie der Staat zu Zeiten des alten
Kapitalismus die Pflicht hatte, die fundamentalen Rechte der Arbeit zu
verteidigen, so haben er und die ganze Gesellschaft angesichts des
neuen Kapitalismus nun die Pflicht, die gemeinsamen Güter zu
verteidigen, die unter anderem den Rahmen bilden, in dem allein es
jedem einzelnen möglich ist, seine persönlichen Ziele auf gerechte
Weise zu verwirklichen.? (CA 40).
58. Die Beseitigung der Schwarzwirtschaft
ist nur
mit Hilfe aufeinander abgestimmter Maßnahmen möglich. Neben der
vernünftigen Minderung der Steuerlasten soll die schnelle Aufdeckung
der Gesetzwidrigkeiten, sowie ihre strenge Bestrafung gesichert werden.
Als gemeinsame Folge dieser Maßnahmen wird es sich immer mehr lohnen
sich in der legalen Wirtschaft zu beteiligen, und das wiederum kann die
Gefahr mindern, daß die Gesellschaft in eine reiche und in eine arme
Hälfte zerfällt. Jede Bemühung ist jedoch umsonst, wenn sich parallel
mit diesen Regelungen die Auffassung der Menschen nicht ändert, und
hier tragen die Christen eine besonders große Verantwortung.
Nur von einem stabilen marktwirtschaftlichen System
der
Institutionen und von einer berechenbaren Rechtsordnung ist zu
erwarten, daß die Unternehmer die geschäftliche Lauterkeit beibehalten,
und auf eine lange Sicht angelegt und mit Verantwortung wirtschaften.
Die staatliche Wirtschaftspolitik und das Verhalten der Individuen
müssen sich auch hier gemeinsam ändern.
59. Der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit verspricht
ebenfalls keine raschen, spektakulären Siege. Das spricht jedoch weder
den Staat noch die Teilnehmer des gesellschaftlichen und
wirtschaftlichen Lebens davon frei, daß sie gemäß ihren spezifischen
Aufgaben immer größere Anstrengungen für die Vollbeschäftigung machen.
60. Die Gesellschaft kann sich die schmerzvolle
Erkenntnis nicht ersparen, daß sie über die Möglichkeiten der
Ausweitung ihres materiellen Wohlstandes mehr wirklichkeitsnahe
Erwartungen formulieren muß. Eine einfachere, natürliche und
zugleich gesündere Lebensführung soll mehr Aufmerksamkeit bekommen.
Das betrifft sowohl die Vorgänge in der ungarischen und internationalen
Wirtschaft, als auch die globalen Umweltprobleme. Wir dürfen auch nicht
vergessen, daß der größere Teil der Erdbevölkerung in einem
unvergleichbar grösseren Elend als wir lebt, Hunderte von Millionen
Menschen hungern auf dieser Erde, vor allem in der südlichen
Hemisphäre.
61. Es wäre sehr wichtig schon den
Kleinkindern
mit Hilfe der Erziehung beizubringen: die Erde haben wir bekommen, um
sie zu schützen und für unsere Nachkommen aufzubewahren. Für die
Christen ist der Schutz der natürlichen Umwelt eine besondere Aufgabe,
eine ganz klare Anweisung: ?Gott, der Herr, nahm also den Menschen
und setzte ihn in den Garten Eden, damit er ihn bebaue und hüte.? (Gen
2,15). Wir können selbstkritisch feststellen, daß wir diesen Aspekt in
der moralischen Erziehung vernachlässigt haben. Dabei sind wir alle
dafür verantwortlich, die Sauberkeit, Ordnung und Schönheit unserer
engeren und weiteren Umgebung zu bewahren und zu pflegen, die Natur,
das Land, die Erde zu schützen. Im Umweltschutz hat also auch das
individuelle Verhalten eine bedeutende Rolle.
Das Eigentum und die Arbeit
62. Die Kirche lehrt konsequent, daß das Recht auf
Privateigentum zu den Grundrechten des Menschen gehört. Dieses
Recht ist jedoch nicht absolut, sondern muß in seiner Anwendung und in
seinem Wirken auch dem Wohl des Gemeinwesens dienen. Die ärmeren
Schichten der ungarischen Gesellschaft tragen seit Jahren immer
schwerere Lasten. Es wurde eben schon darauf hingewiesen, daß die
Gesellschaftsschichten die sich in günstigeren und stärkeren
wirtschaftlichen und politischen Situation befinden wesentlich mehr
Rücksichtnahme und Solidarität zeigen müssten. Die Notwendigkeit der
Kapitalakkumulation schließt es nicht aus, daß die politische Elite und
die Unternehmer der Wirtscheft in ihrem Konsumverhalten zurückhaltender
werden, und einen größeren Teil des erwirtschadteten Gewinnes für die
Unterstützung anderer abgeben. ?Gott hat die Erde mit allem, was sie
enthält, zum Nutzen aller Menschen und Völker bestimmt (...). Darum
soll der Mensch, der sich dieser Güter bedient, die äußeren Dinge, die
er rechtmäßig besitzt, nicht nur als ihm persönlich zu eigen, sondern
muß er sie zugleich auch als Gemeingut ansehen in dem Sinn, daß sie ihm
nicht allein, sondern auch anderen von Nutzen sein können.? (GS 69).
?Die Kirche anerkennt die berechtigte Funktion
des
Gewinnes als Indikator für den guten Zustand und Betrieb des
Unternehmens. (...) Der Gewinn ist ein Regulator des Unternehmens, aber
nicht der einzige. Hinzu kommen andere menschliche und moralische
Faktoren, die auf lange Sicht gesehen zumindest ebenso entscheidend
sind für das Leben des Unternehmens.? (CA 35).
63. Im Kreise der Arbeitsnehmer erscheinen
miteinander die Angst vor der Arbeitslosigkeit das daraus
entstehende hochgradige Ausgeliefertsein und die undisziplinierte, ungenaue
Arbeitsweise. Die Rechte und die Pflichten der Arbeitnehmer sollen
in jedem Bereich der Wirtschaft miteinander ins Gleichgewicht kommen.
Die Arbeitnehmer sollen für ihre Arbeit einen angemessenen Lohn
bekommen, und sie sollen die Möglichkeit der Teilnahme in den
Entscheidungen an ihrem Arbeitsplatz erhalten. Für die Schaffung der
institutionalisierten Ordnung reicht es jedoch nicht aus, einige
Gesetze zu schaffen: sie kann nur aus der gemeinsamen Anstrengung der
Individuen entstehen. Das Grundprinzip der gesamten sozialethischen
Ordnung ist das Prinzip der gemeinsamen Nutzung der Güter. Der
Arbeitnehmer wird daran vorrangig durch den gerechten Arbeitslohn beteiligt,
den er als Gegenleistung für seine Tätigkeit erhält. ?Die Bezahlung,
das heißt der Lohn für die geleistete Arbeit, (bleibt) der konkrete
Weg, auf dem die meisten Menschen zu jenen Gütern gelangen, die zur
gemeinsamen Nutzung bestimmt sind.? (LE 88/19.2).
64. Im Zusammenhang mit der Arbeit kommen
auch
Aspekte unserer persönlichen Lebensführung in den Blick. Die
Arbeit ist ein wichtiges Element unseres Lebens, wir dürfen aber nicht
zum Sklaven derselben werden. Die Notwendigkeit des Überlebens oder gar
die Aneignung von Luxusgütern, das ?Reichwerden?, zwingt viele Menschen
zu großen, übertriebenen Anstrengungen. Das Familienleben oder der
Ruhetag darf jedoch nicht dafür geopfert werden (MM 248-253).
Die Katholiken sollen sich bei ihren
wirtschaftlichen
Entscheidungen - als Gestalter der Wirtschaftspolitik, als Unternehmer
oder als Arbeitnehmer - nach den aus ihrem Glauben erwachsenen Werten
richten. An der Vermittlung jenes Wissens, das zum Umgang mit der
gegenwärtigen sozialen Marktwirtschaft notwendig ist, insbesondere an
der Weitergabe von wünschenswerten Verhaltensmustern, soll sich die
Kirche, im Rahmen der Erwachsenenbildung, auch institutionell
beteiligen.
3. Staat und Politik
Die politische Wende und ihre
Konsequenzen
65. In den ehemaligen sozialistischen
Ländern
erfolgte eine radikale Umstrukturierung des Systems staatlicher
Institutionen und des politischen Lebens. So geschah es auch in Ungarn
im Zuge des friedlichen Überganges, bei der sog. ?verfassungsmäßigen
oder rechtstaatlichen Revolution? in den Jahren 1989-1990. Es soll an zahlreiche
positive Momente dieses Prozesses erinnert werden, die auf dem
Gebiet der Verfassungskonformität, der Rechtstaatlichkeit, der freien
Wahlen, der Rede-, der Versammlungs- und der Religionsfreiheit, und im
allgemeinen auf dem Gebiet der Anerkennung der Menschenrechte, die
früher lediglich als Schlagwörter benutzt, jetzt tatsächlich
verwirklich wurden. Viele Werte, die 40 Jahre lang gefehlt haben, sind
im Leben der Gesellschaft wieder zur Wirklichkeit geworden, darunter
das Mehrparteiensystem und der politische Pluralismus. Das ist in
Ungarn vor 1989 unvorstellbar gewesen, obwohl diese die Werte der
Menschenwürde, der Gerechtigkeit und der Freiheit fördern, Werte die
auch die Kirche verkündet. Die Institutionen einer, mit einem
Mehrparteiensystem funktionierenden pluralistischen Demokratie wurden
errichtet, ihre Tätigkeit hat bislang grundsätzlich der Stabilität
gedient. Keine grosse Institution hat die Grundsätze der
Verfassungmäßigkeit und der Rechtstaatlichkeit demonstrativ verletzt,
oder den Weg der Achtung der Gesetze verlassen. Die demokratischen
Institutionen haben sich als fest und stabil erwiesen.
Die Enzyklika Centesimus annus hat jedoch
bereits im Jahre 1991 darauf aufmerksam gemacht, daß die Länder die
diese Transformation durchmachen eine wahre ?Nachkriegszeit?
mit zahlreichen Problemen erleben werden (CA 28). Die politische
Umstrukturierung und die Demokratie haben nicht den von vielen
erhofften Wohlstand erbracht. Unsere Situation kann zusammenfassend
folgendermaßen charakterisiert werden: viele unserer berechtigten
Hoffnungen wurden verwirklicht - wir müssen uns aber noch lange
bemühen, damit sich ein wirklich menschenwürdiges Leben in der
ungarischen Gesellschaft entwickelt.
66. Die Inhaber der Macht, die
Mitglieder
der politischen Klasse sind nicht imstande jene neue Qualität der
Politik auf überzeugende und aufrichtige Weise zu repräsentieren die
die Staatsbürger mit Recht erwarten. Ein Teil der Staatsbürger ist der
Meinung, daß die Politiker, vor allem die vom Volk gewählten
Abgeordneten und die parlamentarischen Parteien eine neue (aber oft
immer noch aus den ?alten? Personen bestehende) Elite bilden, die kein
Ohr für die wahre Situation und für die Probleme der Gesellschaft hat.
Wir hoffen jedoch, daß der Großteil der Politiker sich ehrlich und
korrekt bemüht, ihrer Berufung gerecht zu werden.
Eine paradoxe Situation der
Umgestaltung
des Staates besteht in Ungarn (wie auch in den anderen ehemals
sozialistischen Ländern) darin, daß einerseits der totalitäre,
zentralisierte, bürokratische und auf gesellschaftliches Eigentum
konzipierte Staat abgebaut, andererseits ein auf Pluralismus
basierender, funktionsfähiger Staat aufgebaut werden soll. Das bedeutet
eigentlich einen Umbau. Da es jedoch keine ausgearbeiteten
Modelle gibt, ist es nicht überraschend, doch keinesfalls akzeptabel,
daß es Erscheinungen gibt, die zu einer ?Wiederverstaatlichung? und
Zentralisierung führen. Eine Unsicherheit besteht deswegen in der Frage
welche Rolle der Staat, insbesondere auf dem Gebiet der
Sozialleistungen, übernehmen soll. Es ist ein schwer lösbarer
Widerspruch, daß der Staat sich auf manchen Gebieten ausbreitet und die
Fähigkeit der Selbstgestaltung der Gesellschaft schwächt, auf der
anderen Seite jedoch zieht er sich aus dem Bereich der sozialen
Leistungen zurück.
Die erfolgreiche Tätigkeit des Staates wird durch
eine
wirksame Verwaltung gesichert. Neben den guten Gesetzen sind die gute
Verwaltung und eine angemessen bezahlte und korrekte Beamtenschaft
unentbehrlich. Es ist zu bedauern, daß sich in der letzten Zeit viele
Beamten gezwungen sahen, den öffentlichen Dienst wegen niedriger Löhne
und den institutionellen Einschränkungen, zu verlassen.
67. Die Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft
ist in vieler Hinsicht bis heute unklar. Die auch in Ungarn
verwirklichte repräsentative Demokratie funktioniert auf die Weise, daß
die vom Volk gewählten Abgeordneten für eine bestimmte Zeit ermächtigt
werden die Aufgaben des Gemeinwesens ihren Wahlversprechen und ihrem
Gewissen nach zu verrichten. Dies ist die Grundlage für die
rechtliche Legitimität einer Regierung, die von der Mehrheit der
Abgeordneten unterstützt wird. Die Gesellschaft ist jedoch auch für die
gesellschaftliche Legitimität sehr empfindlich, die in der
gesellschaftlichen Akzeptierung der politischen Macht besteht. Dazu
wäre ein ehrlicher und kontinuierlicher Dialog zwischen der politischen
Macht und der Gesellschaft notwendig, sowie ein funktionierendes System
und die wirksame Arbeit der dazu notwendigen Institutionen. Die Organe
des Staates und die gesellschaftlichen Organisationen sollten sich mehr
anstrengen um die Einheit der Gesellschaft und die Initiativen und
Institutionen der sozialen Partrnerschaft zu fördern und die bereits
bestehenden zu unterstützen. Andernfalls kann die allgemeine
Politikmüdigkeit eskalieren, die sich sowohl in dem Mißtrauen gegenüber
der Politik, als auch in dem Rückgang der politischen Aktivität
manifestiert.
Das Ausbleiben der Umgestaltung
der
Gesellschaft
68. Die wichtigste Zielsetzung der
oppositionellen Politik - sowohl dem Staat, als auch jeglicher Art von
zentraler oder monopoler Macht gegenüber - bestand vor 1989 in dem
Aufbau einer selbstbewußten, sich selbst verwaltenden Gesellschaft, mit
einer autonomen Gesellschaftsorganisation. Das wurde mit dem Begriff Zivilgesellschaft
ausgedrückt, der gleichermassen beinhaltete die Bestrebung nach
Dezentralisierung und den Wunsch gesellschaftlicher Beteiligung auf den
?unteren? Ebenen des öffentlichen Lebens - am Wohnort, am Arbeitsplatz
und anderswo -, und nach der Schaffung der entsprechenden Organisation
der Gesellschaft (wie es auch vom Prinzip der Subsidiarität gefordert
wird). Aus dieser Zielsetzung ist kaum etwas verwirklicht worden. Es
fehlt an entschiedenen politischen Konzepten und an konkreten
Maßnahmen, die die Einbeziehung der Bürger vorantreiben würden. Die
vergangenen 1-2 Jahre weisen, im Gegensatz dazu, sogar wieder in die
Richtung der Zentralisierung, so zum Beispiel in der Verwaltung. Die
politisch ungebildeten und unerfahrenen, oft enttäuschten Staatsbürger
glauben andererseits selbst nicht mehr daran, daß sie für die
Verbesserung der Verhältnisse ihrer engeren oder weiteren Umwelt etwas
beitragen könnten. Der finanzielle Hintergrund für die wirksame
Handlung der bereits existierenden zivilen Initiativengruppen fehlt in
den meisten Fällen, sie werden deshalb unwirksam oder geraten
finanziell in die Abgängigkeit des Staates. Es soll garantiert werden,
daß die finanzielle Unterstützung der gesellschaftlichen Organisationen
ihrem wahren Wert entsprechend und nicht nach politischen
Gesichtspunkten oder gar nach persönlichen Interessen bestimmt wird.
69. Die politische Umwälzung hat nicht
in
hinreichendem Ausmaß das Aktivwerden der Gesellschaft im
öffentlichen Leben mit sich gebracht. Ohne dieser Aktivierung kann
aber die institutionell gewährte Möglichkeit der Demokratie nicht zu
einer verwirklichten Praxis werden.
Es ist allerdings auch nach 1989 nicht das
Interesse der
staatlichen Bürokratie geworden, ihre eigene Vergesellschaftlichung
einzuleiten und die bürgerlichen Bewegungen und die ?von unten?
kommenden gesellschaftlichen Organisationen zu fördern. Die
Zentralisierung, die sich in der Wirtschaft, im politischen Leben und
in der Kultur zeigt, hat - auch wenn sie gelegentlich unumgänglich ist
- in einer doppelten Hinsicht negative Folgen. Einerseits können sich
die Initiativen von unten nicht entfalten. Die Individuen und die
kleinen Gemeinschaften erlangen keine Erfahrungen auf dem Gebiet des
öffentlichen Lebens und in den meisten Fällen entwickelt sich nicht
einmal ihr Verantwortungsgefühl für die anderen, für das Gemeinwesen
heraus. So bleiben wichtige Energien ungenützt. Andererseits entfernen
und entfremden sich die Mammutorganisationen von der Welt der konkreten
Menschen und von den unteren Ebenen der Gesellschaft, deren Ansprüchen
und Erwartungen sie nicht gerecht werden können. Die freiwilligen
Zusammenschlüsse der Individuen und der Gruppen sind dagegen
überfordert und können deshalb ihre Aufgaben nur schwer erfüllen.
Eine günstige Änderung besteht aber darin, daß die
weitere Stärkung der Zivilgesellschaft heute freier, mit mehr
menschlichen und mit demokratischeren Methoden erfolgen kann, zumal
gegenwärtig 41 Tausend gesellschaftliche Organisationen existieren -
zumindest nach der offiziellen Registrierung.
Unsere persönliche Verantwortung
70. Die Bevölkerung keines Landes kann
erwarten,
daß die Organe und Institutionen der Regierung, oder der Verwaltung
jede Aufgabe verrichten. Die Regierungen sind nirgendswo auf der Welt
fehlerfreie Institutionen. Die Gesetzgebung ist oft das Ergebnis von
kurzsichtigen Kompromissen. Die Verwaltung steht oft unter schlechter
Leitung. Entscheidungen können gegebenenfalls unerwartete und
unbeabsichtigte Konsequenzen haben. Die Staatsbürger müssen auch
selbst an der Lösung der Probleme teilnehmen, nicht nur durch die
Ausübung ihres Wahlrechtes, sondern auch über gesellschaftliche und
kirchliche Institutionen und auch über ihre individuellen Initiativen.
Ihr Auftritt kann die Arbeit der zentralen oder kommunalen Verwaltungen
ergänzen oder vielleicht korrigieren. Die Teilnahme an der
?Zivilsphäre? ist, auch im Sinne des Subsidiaritätprinzips,
unentbehrlich für die Errichtung und für die Arbeit der demokratischen
Institutionen.
71. Man darf nicht zulassen, daß der sich
in
der Gesellschaft ausbreitende Pessimismus, die Resignation und der
Mißmut dominierend werden. Wir weisen hier zwar kritisch auf Sorgen,
auf Übel und auf Fehler hin, sind uns jedoch darüber im Klaren - was
heutzutage viele nur zu leicht vergessen -, daß das seit 1989-1990
gestaltete institutionelle System der Politik und des Staates, anstelle
des alten, totalitären und eine einzige Partei und deren Leiter
bedienenden Regimes der vergangenen Jahrzehnte, eine neue, mehr
aufrichtige und mehr humane Welt hervorbrachte. Wir dürfen nicht
vergessen, daß dem Großteil der Gesellschaft Jahrzehnte hindurch solche
- lediglich auf Papier existierenden - grundlegenden Voraussetzungen
der Menschenwürde vorenthalten wurden, wie die Menschenrechte, darunter
die Religionsfreiheit, die Demokratie und die Rechtstaatlichkeit. Die
Kirche widersetzt sich deshalb der kleinlichen Ansicht, die lediglich
die Schwierigkeiten und schlechte Seiten der Veränderungen sieht, bzw.
die die wunderbare Gabe der Freiheit vergisst und somit eine falsche
Nostalgie für die Vergangenheit nährt.
- Die Schaffung und die Förderung eines demokratischen Modells der
Gesellschaft ist Pflicht eines jeden Christen (OA
24). Ein Teil davon ist das Prinzip des Rechtstaates, ?in dem
das Gesetz und nicht die Willkür der Menschen herrscht? (CA 44). ?Eine
wahre Demokratie ist nur in einem Rechtsstaat und auf der Grundlage
einer richtigen Auffassung vom Menschen möglich. Sie erfordert die
Erstellung der notwendigen Vorbedingungen für die Förderung (...) der
einzelnen Menschen durch die Erziehung und Bildung (...)? (CA 46). Es
ist zwar verständlich, doch bedauerlich, daß der wichtigste Grund für
die fehlende Verständigung zwischen dem Staat und der Gesellschaft und
für das Mißtrauen gegenüber der Politik im Mangel an Kenntnissen über
die Funktionsweise der Politik und der Demokratie liegt. Die
Demokratie, die Rechtstaatlichkeit, die Verfassungsmässigkeit sind
Werte, die man nicht einfach als Geschenk erhalten kann, sondern die
erlernt und allmählich in unsere Denkweise, in die allgemeine Kultur
integriert werden müssen. Deswegen ermutigen wir unsere Gläubigen und
alle Menschen, trotz den Schwierigkeiten des Auskommens und der
politischen Enttäuschung diese grundlegenden Werte kennenzulernen und
sich anzueignen. Wir tun das besonders im Bewußtsein ?daß das
Gemeinwohl sich auf den ganzen Menschen erstreckt, also auf die
Erfordernisse des Leibes ebenso wie auf die des Geistes? (PT 57). ?Die
heute dem Volk und besonders der Jugend so notwendige
staatsbürgerliche und politische Erziehung ist eifrig zu pflegen,
so daß alle Bürger am Leben der politischen Gemeinschaft aktiv
teilnehmen können? (GS 75).
Erwartungen von der Politik und
von
dem Staat
73. Die Soziallehre der Kirche umreißt ganz
klar
die wünschenswerte Funktion und Kompetenz des Staates. Das II.
Vatikanische Konzil weist -wie wir es bereits gesehen haben - auf die
Gegenseitigkeit der Rechte und Pflichten hin. Es betont die Pflichten
des Staates im Dienste der Gesellschaft. Die Staatsbürger werden jedoch
ermahnt, der öffentlichen Hand keinen übergroßen Einfluß zu gewähren
aber auch genausowenig unbegründete und übertriebene Begünstigungen von
ihr zu verlangen. Als Gegenleistung für die vom Staat erlangte
Sicherheit und Dienstleistungen soll jeder Mensch mit dem
Verantwortungsbewusstsein der Gesellschaft gegenüber ?zahlen?. Die
schwere Aufgabe der Staatsbürger besteht darin, ein sensibles
Gleichgewicht zwischen Autorität und Freiheit, zwischen
Privatinitiative und Solidarität, zwischen der notwendigen Einheit und
dem Pluralismus herzustellen.
74. Die Erwartungen dem Staat und der
Politik
gegenüber können im Spiegel der genannten Grundprinzipien formuliert
werden.
Obwohl der Begriff ?Gemeinwohl? aus dem
Sprachgebrauch und der Praxis der ungarischen Öffentlichkeit
verschwunden ist, müssen wir anhand der Soziallehre der Kirche daran
erinnern, daß sowohl die Individuen, als auch die verschiedenen
Gemeinschaften, als auch der Staat verpflichtet sind sich um das
Gemeinwohl, das das Wohl der ganzen Gesellschaft und der einzelnen
Individuen einschließt, zu bemühen. Die führenden Personen des
Staates dürfen nicht ausgewählten Personen oder Gruppen rechtswidrige
und ungerechte Begünstigungen zukommen lassen, sondern müssen immer das
Wohl der ganzen Gesellschaft suchen. ?Auf keinen Fall darf zugelassen
werden, daß die Staatsgewalt dem Vorteil eines einzelnen oder nur
wenigen diene, während sie doch für das Wohl aller eingesetzt ist.? (PT
56).
Es ist die Pflicht des Staates, auf der Grundlage
der
Gerechtigkeit, der Nächstenliebe und der Freiheit, die moralischen
Normen, die Verfassungsmäßigkeit und das Gemeinwohl zu fördern (PT
63), um dadurch eine neue, humanere Ordnung der zwischenmenschlichen
Beziehungen zu schaffen: ?Beziehungen der einzelnen untereinander;
zwischen den einzelnen und ihren Staaten; den Staaten untereinander;
schließlich Beziehungen der einzelnen, der Familien, der intermediären
Körperschaften, den Staaten auf der einen Seite zur Gemeinschaft aller
Menschen auf der anderen.? (PT 163).
75. Die Regierung soll zur Stärkung der
Zivilgesellschaft beitragen, die Voraussetzungen für das Handeln
deren Organisationen garantieren, damit sich die erneute
Verstaatlichung der Gesellschaft nicht fortsetzt. Sie soll die
Initiativen auf niedrigeren gesellschaftlichen Ebenen gegenüber der
stärkeren und höheren Ebenen schützten, und die Konzentration der
politischen und wirtschaftlichen Macht einschränken. ?Die Rechte aller
Personen, Familien und gesellschaftlichen Gruppen und deren Ausübung
sollen anerkannt, geschützt und gefördert werden zusammen mit den
Pflichten, die alle Staatsbürger binden. Unter diesen Pflichten muß
ausdrücklich die Pflicht genannt werden, dem Staat jene materiellen und
persönlichen Dienste zu leisten, die für das Gemeinwohl notwendig sind?
(GS 75).
76. Gewisse Richtungen der politischen und
wirtschaftlichen Philosophie erwarten vom Staat, daß er ausschließlich
die erfolgreichsten Individuen, Organisationen und Unternehmen
unterstütze - in der Hoffnung, daß diese später die Zukunft des Landes
sichern werden. Die Erfahrungen der vergangenen Jahre haben diese
Hypothese keinesfalls bestätigt. Im Sinne der katholischen Soziallehre
müssen wir die Erwartung formulieren, daß der Staat - innerhalb
seiner Möglichkeiten - für alle ein meschenwürdiges Leben sichern
soll. Der Staat soll also keineswegs eine nur die Wirtschaft
fördernde, sondern auch eine, die sozial Bedürftigen unterstützende
Politik verfolgen (PT 64).
Die Unterstützung der Menschen bedeutet vor allem,
die
Herstellung ihrer Handlungsfähigkeit und ihrer Fähigkeit zur
Selbstversorgung. Das Funktionieren des Staates ist nicht dann gut,
wenn er passive Bürger konfliktfrei lenkt und ?bemuttert?, sondern wenn
er seine Bürger zu verantwortlichen, zur Regelung der eigenen
Anliegen fähigen Menschen erzieht. Damit sind die erwünschten
Entwicklungswege sowohl für das Bildungswesen als auch für die
Organisation des Staates angegeben (PT 63, CA 48).
Die Verantwortung und die
Aufgaben
der Zivilgesellschaft
77. Die Erschaffung einer
?Zivilgesellschaft?,
die die Verantwortung für sich übernehmen und sich versorgen und
verwalten kann, ist eine moralische Pflicht und eine praktische
Aufgabe an erster Stelle der Menschen selbst und ihrer
Gemeinschaften. Die Christen sollen im Bewußtsein und mit der
Verantwortlichkeit ihrer von Gott erhaltenen Sendung im Dienst des
Gemeinwohls stehen und sich für die Erschaffung einer solidaren
Gesellschaft bemühen. ?In vollem Einklang mit der menschlichen Natur
steht die Entwicklung von rechtlichen und politischen Strukturen, die
ohne jede Diskriminierung allen Staatsbürgern immer mehr die
tatsächliche Möglichkeit gibt, frei und aktiv teilzuhaben an der
rechtlichen Grundlegung ihrer politischen Gemeinschaft, an der Leitung
des politischen Geschehens, an der Festlegung des Betätigungsbereichs
und des Zwecks der verschiedenen Institutionen und an der Wahl der
Regierenden.? (GS 75). Wichtig für die Entstehung der die
gesellschaftliche Autonomie fördernden Reformen sind ?(...) die
Bemühungen der organisierten Selbsthilfe der Gesellschaft in der
Erstellung wirksamer Formen der Solidarität, die imstande waren,
Wirtschaftswachstum mit mehr Achtung vor dem Menschen zu verbinden.?
(CA 16).
Der Staat soll mit seinen eigenen Mitteln die
Geburt einer
demokratischen und pluralistischen Zivilgesellschaft anspornen und
unterstützen, indem er den von unten entstehenden und dem Wohl der
Gemeinschaft dienenden Initiativen (darunter auch den religiösen und
den kirchlichen) die notwendigen Unterstützungen gewährt, ohne diese an
politische, weltanschauliche oder sonstige Bedingungen zu knüpfen. ?Die
Regierenden sollen sich davor hüten, den Familien, gesellschaftlichen
und kulturellen Gruppen, vorstaatlichen Körperschaften und
Institutionen Hindernisse in den Weg zu legen oder ihnen den ihnen
zustehenden freien Wirkungskreis zu nehmen; vielmehr sollen sie diese
großzügig und geregelt fördern.? (GS 75).
- Es ist die Verpflichtung jedes einzelnen Menschen und der Gesellschaft,
ihre Aufgaben gemeinsam zu lösen: die Gemeinschaften
und
die Institutionen des Gemeinschaftslebens zu erschaffen um miteinander
einen ständigen Dialog zu führen, indem die gegenseitigen
Unterschiedlichkeiten anerkannt und akzeptiert werden. Die
Demokratie muß erlernt und geübt werden. Die Bedingung ihrer
Verwirklichung ist es jedoch, den anderen Menschen, Institutionen oder
Gemeinschaften zu Wort kommen zu lassen. Dafür reicht es nicht aus, die
Freiheit und die Rechtstaatlichkeit zu erwerben. Das ehemalige Regime
hat die politische, kulturelle und wirtschaftliche Macht in die Hand
von wenigen gelegt. Dieser Zustand hat sich auch bis heute nicht
verändert, hat höchstens eine neue Gestalt angenommen und behindert
weiterhin daß die ?kleinen Leute? (und alle Gruppen, Organisationen
oder Weltanschauungen, die im sozialistisch-kommunistischen System
diskriminiert wurden) zu Wort kommen und ihre Interessen durchsetzen
können. Wenn der Staat sich auf seine Neutralität beruft und keine
Rücksicht auf diesen Zustand nimmt, dann rettet er damit die vom
vergangenen System geschaffene Verhältnisse in die Zukunft. Der Schutz
von und die Ermutigung zum ?Andersdenken? und dem Pluralismus sind
Pflichten des Staates (und natürlich auch der Gesellschaft, der Kirche
und aller anderen Institutionen). ?Das Vatikanische Konzil erklärt, daß
die menschliche Person das Recht auf die religiöse Freiheit hat. Diese
Freiheit besteht darin, daß (...) in religiösen Dingen niemand
gezwungen wird, gegen sein Gewissen zu handeln.? (DH 2). Es ist jedoch
selbstverständlich, daß der Pluralismus keine unbegrenzte moralische
Freizügigkeit bedeuten kann: ?Alle Menschen sind ihrerseits
verpflichtet, die Wahrheit (...) zu suchen und die erkannte Wahrheit
aufzunehmen und zu bewahren.? (DH 1).
79. Die Erneuerung unseree individuellen und
gesellschaftlichen Lebens hängt nicht nur von politischen und
wirtschaftlichen Umständen ab, sondern auch in großem Maße von der
Qualität unserer individuellen und gemeinschaftlichen Lebensführung.
In diesem Zusammenhang möchten wir drei Themenkreise hervorheben: die
Alltagskultur, die Kommunikation und das Bildungswesen.
Im weiten Sinne des Wortes nennen wir all jenes
Wissen Kultur,
das die Lebensumstände des Menschen bestimmt, das also der Mensch
bedarf um - der von seinem Schöpfer erhaltenen Ermächtigung und seinem
Befehl folgend - seine eigene Persönlichkeit zu gestalten, um
persönliche Beziehungen herzustellen, um Gemeinschaften zu gründen und
um auf den verschiedenen Gebieten des Lebens mit seiner Tätigkeit Werke
zu schaffen. ?Unter Kultur im allgemeinen versteht man alles, wodurch
der Mensch seine vielfältigen geistigen und körperlichen Anlagen
ausbildet und entfaltet.? (GS 53). Ohne Kultur ist kein Leben im
menschlichen Sinne möglich. In diesem Zusammenhang sollen wir sowohl
über unsere persönliche Lebens- und Denkweise, als auch über die
Strukturen (Institutionen) der Gemeinschaft und der Kultur sprechen.
Die (gesellschaftliche) Kommunikation kann
von
der Kultur nicht getrennt werden, ist aber dennoch ein davon
unterschiedenes Phänomen. Ihre Bedeutung besteht für uns alle darin,
daß eine wahre Gemeinschaft (communio) ohne Kommunikation nicht
entstehen kann. Die Gesellschaft (und der Mensch der darin lebt) kann
nur durch Kommunikation zur echten Gemeinschaft werden, in der für die
einzelnen Mitglieder und Gruppen das gemeinsame Wissen (die Kultur
selbst) erst erreichbar wird. Dieses gibt einerseits die Möglichkeit
des menschlichen Lebens, andererseits wird dadurch die Herausbildung
der individuellen und der gemeinschaftlichen Identität ermöglicht; das
heißt das die (gesellschaftliche) Kommunikation für des Individuum die
Sozialisation, sich der Gemeinschaft der Gesellschaft anzuschliessen
und mit anderen einen gesellschaftlichen Konsens herauszubilden,
ermöglicht. Damit wird die (gesellschaftliche) Kommunikation zu einem
wichtigen Werkzeug der Strukturierung der Gesellschaft. Da die Liebe
die Urquelle, die Basis und die Erfüllung unserer Existenz ist, genügt
es nicht, sie lediglich in unseren persönlichen Beziehungen, in unserem
Privatleben zu erleben, sondern wir müssen sie auch im Leben der
Gesellschaft Wirklichkeit werden lassen. Papst Johannes Paul II. hat
wiederholt aufgerufen, auf den Spuren Christi die Zivilisation der
Liebe aufzubauen, weil das Fortkommen oder das Überleben überhaupt nur
auf diese Weise gesichert werden kann.
Die Bildung und die Erziehung sind
grundlegende
und unentbehrliche Mittel der Entfaltung der Gesellschaft und der
Entwicklung der Person. Der menschliche Fortschritt wir dadurch
ermöglicht, daß wir das von unseren Vorfahren geerbte Wissen und
Erfahrung an die kommende Generation weitergeben. In unserer sich
schnell ändernden Welt und insbesondere inmitten der tiefgreifenden
Umwälzungen Ungarns hat das Bildungssystem eine äußerst wichtige
Funktion und eine große Verantwortung. Die Erziehung hat aber eine
vielleicht noch grössere Bedeutung sowohl für das Individuum als auch
für die Gesellschaft, denn der als frei erschaffene Mensch ist selbst
für die Gestaltung seines Lebens und seiner Persönlichkeit
verantwortlich, und die Mitglieder einer Gesellschaft haben gemeinsam
die Verantwortung füreinander und für das Gemeinwohl zu übernehmen.
Unsere individuelle Lebensführung
80. Wir sind auch selbst persönlich
verantwortlich für unsere Schwierigkeiten und Probleme. Die
vergangenen Jahrzehnte haben in unserer körperlichen und geistigen
Gesundheit schwere Schäden verursacht, auch die Ideale und das
Wertesystem vieler Menschen wurden arg angegriffen. Für die Erneuerung
ist demnach erforderlich, vor Gottes Angesicht unser Gewissen zu
erforschen, über uns Rechenschaft abzulegen, unsere Ideale zu
überprüfen und wo nötig, unser Verhalten, unsere Betrachtungsweise und
unser eventuell fehlerhaftes oder verzerrtes Wertsystem zu verändern.
81. Seien es noch so viele Schäden, die die
vergangenen 40 Jahre verursacht haben, die Verantwortung können wir
immer weniger einfach der Vergangenheit aufbürden. Jeder einzelne
Mensch hat seine besondere Verantwortung und Verpflichtung in der
Gesellschaft. Die Verschlechterung der öffentlichen Moral, die
Korruption, der egoistische Mißbrauch der politischen Macht, die
schnelle und unmoralische Bereicherung einzelner, dies alles lastet
schwer auf uns. Tatsache ist jedoch auch, daß die meisten von uns nicht
nur passive und leidende Subjekte, sondern auch Beteiligte der
Entstellungen und Verrenkungen unserer Gesellschaft sind, sei es durch
falsche Entscheidungen oder durch unser passives Schweigen. Wir alle
haben die persönliche Pflicht, die auf uns wartenden Aufgaben zu
entdecken und diese verantwortungsvoll zu übernehmen.
82. Die Achtung des Lebens hat
nachgelassen.
Die Selbsmordrate ist, - trotz ihrer seit 1988 einsetzenden Abnahme -,
insbesondere bei jungen Menschen sehr hoch. Die Zahl der Verbrechen
gegen das Leben nimmt zu. Das Auslöschen des ungeborenen Lebens ist
fast zur allgemeinen Praxis geworden. Die künstliche Beendigung des
Lebens als unheilbar angesehener leidenden Menschen wird offen
diskutiert. Einige Politiker befürworten die Legalisierung bestimmter
Formen des Rauschgiftkonsums.
Der Großteil der Bevölkerung wurde zu einer
selbstausbeutenden, ungesunden, selbstzerstörerischen, unmenschlichen
Lebensführung gezwungen. Viele haben ihr Selbstvertrauen, und ihren
Glauben und die Hoffnung auf die Zukunft verloren, vor allem wegen
der Verarmung, wegen der Angst vor Arbeitslosigkeit, sowie wegen der
Verschlechterung der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse.
83. Nach dem Zeugnis der Europäischen
Wertestudie
ist die ungarische Gesellschaft, verglichen mit anderen europäischen
Ländern, in besonders großem Maße individualistisch geworden. In
unserem Egoismus kümmern wir uns ausschließlich um uns selbst. Die
Werte der gemeinsamen Freude, und der gemeinsamen
Verantwortungsübernahme und die Pflicht der Fürsorge füreinander haben
wir vergessen. Es ist jedoch erfreulich, daß es auch sichtbar
entgegengesetzte Bemühungen gibt. Zahlreiche Bürgerinitiativen mit
karitativen Zielen wurden gestartet. In den Kirchgemeinden hat man
vor einigen Jahren damit angefangen, die Alten, die Kranken, die
kinderreichen Familien und andere Bedürftigen ausfindig zu machen und
ihnen Hilfe zu leisten. Diese von unten entstehenden Ansätze der Selbsthilfe
haben eine besonders wichtige Funktion, vor allem zu einer Zeit,
als der Staat immer weniger Geld für die Sozialpolitik verwendet. Es
ist wichtig die Solidarität mit den Mittellosen, die Unterstützung der
Notleidenden und auch die auf diese Weise entstehende Gemeinschaft.
84. In anderen Zusammenhängen haben wir
bereits
gesehen, daß in den vergangenen Jahrzehnten unsere moralische Welt, unser
Wertsystem verunsichert, in vieler Hinsicht beinahe völlig zerstört
wurde. Dieser landesweite Wertverlust zeigt sich noch auffälliger
unter den gegenwärtigen, sich ständig ändernden gesellschaftlichen
Verhältnissen. Man kann keine bedeutenden Bemühungen erblicken für die
Verbesserung des verzerrten Wertesystems der Menschen, für die Erhöhung
ihrer Bildung, wo notwendig für die Hilfeleistung zu ihrer
gesellschaftlichen Reintegration, für die Stärkung ihres
Verantwortungsbewußtseins für sich selbst und für das Gemeinwohl.
Die Lebensqualität hat sich weiter
verschlechtert; nicht nur in finanzieller Hinsicht, sondern auch im
Bereich der moralischen und kulturellen Werte. Die daraus entstehenden
Gefahren und die dadurch verursachten Schäden dürfen nicht unterschätzt
werden, denn anhand dieser Werte wird es bestimmt worin der Sinn des
Lebens besteht; was unsere Aufgaben Gott, uns selbst, und unseren
Mitmenschen gegenüber sind; was Gut und was Böse ist. Da der genannte
gesellschaftliche Verfall stark verbreitet ist, bekommt das Individuum
auch von der Öffentlichkeit keine Hilfe zur Aneignung der Werte
(darunter der moralischen Werte).
Der Wertverlust zeigt sich vor allem auf drei
Gebieten
dramatisch: im öffentlichen Leben, im Familienleben und im kulturellen
Leben.
85. Da es 40 Jahre hindurch kaum die
Möglichkeit
zur freien Meinungsäußerung und zur Konfrontierung von Meinungen
gegeben hat, ist es verständlich, daß ein Großteil der Gesellschaft die
Respektierung der Mitmenschen, in Fällen wo die eigenen
Meinungen oder Interessen von denen der anderen abweichen, für sich
nicht für verpflichtend hält. Die Uneinigkeit, das Mißtrauen und die
Friedlosigkeit verhindern nicht nur die Entstehung eines gesunden
öffentlichen Lebens, sondern auch die gesunden, demokratischen
politischen Verhältnisse. Die Achtung der Mitmenschen und auch
die Fähigkeit und der Wille zur Rücksichtnahme haben auf eine
ganz gefährliche Weise nachgelassen, obwohl ohne diese keine
Gemeinschaft bestehen kann. Bei vielen Mitmenschen (leider manchmal
auch bei solchen, die sich Christen nennen) existieren tief
verwurzelten, oft rassistischen Vorurteile gegen Menschen anderer
Konfession, gegen Nationalitäten, Minderheiten und letzendlich gegen
einem jeden für fremd gehaltenen Menschen. Die gegenseitige Achtung
fehlt auch im politischen und geschäftlichen Leben, oft sogar im
alltäglichen Umgang miteinander. Wir akzeptieren den anderen Menschen
nicht in seiner Eigenart wie Gott ihn erschaffen hat und wie ihn Gott
liebt.
Der Schutz der grundlegenden Werte, die zum Leben
der
Gesellschaft und zur Sicherung der Menschenwürde notwendig sind, ist
die Pflicht des Staates im Interesse der ganzen Gesellschaft. Keiner
kann sich jedoch der gemeinsamen Verantwortung entziehen. Wir alle
sollen uns bemühen, daß die elementaren menschlichen Werte auch im
Denken der Gesellschaft ihren würdigen Rang erlangen.
86. Das Gemeineigentum, wie auch das
Privateigentum sind gefährdet. Der Grund dafür kann nur teilweise
in den Eigentumsverhältnissen der vergangenen Jahrzehnte gefunden
werden. Einen größeren Schaden verursacht die Tatsache, daß die
grundlegenden, das Eigentum betreffenden moralischen Gebote in
Vergessenheit gerieten. Als ob die Werkzeuge an unserem Arbeitsplatz,
die Gegenstände unserer Umwelt und das öffentliche Eigentum freie Beute
für alle wären. Es liegt an uns, wie wir unsere Umwelt schützen, und
wie weit das Gemeingut und das Eigentum des anderen geachtet und
geschützt wird. Wo die Gesellschaft die Zerstörung und den Raub nicht
verurteilt, dort sind das Recht und das Gesetz machtlos.
87. Es kann häufig festgestellt werden, daß Menschen
selbst die elementarsten Normen der geschäftlichen Lauterkeit und
Ehrlichkeit außer Acht lassen und sind bemüht sich gegenseitig zu
betrügen um mit unrechtmässigen und amoralischen Methoden zum Gewinn zu
kommen. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich auch die Arbeitsmoral
in Ungarn verschlechtert. In den letzten Jahren hat sich das
Arbeitstempo vielerorts beschleunigt, jedoch nicht überall und
vielleicht nicht in genügendem Ausmaß. Wir sind Teilnehmer eines
internationalen Wettbewerbs geworden woran sich nicht nur Westeuropäer
sondern auch Südost- und Ostasiaten beteiligen. Unsere Wirtschaft kann
ihren Platz nur mit einer, die gegenwärtige übertreffenden Leistung
behaupten. Und der einzelnen Arbeitnehmer kann nur für härtere Arbeit
ein höheres Einkommen erhoffen. Die mit vollem Einsatz ausgeführte
ehrliche Arbeit ist eine moralische Verpflichtung und eine
wirtschaftliche Notwendigkeit. Zur gleichen Zeit verbreiten sich aber
neue Methode der Ausbeutung: es gibt Arbeitgeber die die
Arbeitslosigkeit und die Möglichkeiten der Schwarzarbeit nutzen und
Menschen für einen Hungerlohn beschäftigen.
88. Die rohe, grobe, egoistische,
sogar
für andere Menschen und für das Gemeinwesen schädliche, absichtlich
zerstörerische, brutale Verhaltensweise verbreitet sich in einem
gefährlichen Ausmaß. Die vandale Zerstörung verschont nicht
einmal den geheiligten Raum der Kirchen. Gegen diese Erscheinungen und
für die Schaffung und Verbreitung eines wahren Bildungsideals treten -
von wenigen achtungswerten Bemühungen abgesehen - weder die öffentliche
Meinung, noch die Medien, noch die Organe des Staates und die
gesellschaftlichen Organisationen entschieden genug (oder gar
überhaupt) auf.
89. Die Zukunft und das Handeln
für die Zukunft werden von der Gesellschaft kaum als Werte
angesehen: die für das individuelle und gemeinschaftliche Leben
notwendigen Werte haben ihre Glaubwürdigkeit und ihr Anziehungskraft
verloren. Auch inmitten der anwachsenden Armut ist das für die
Konsumgesellschaft charakteristische Verhalten allgemein geworden.
Es scheint, daß in dem, die ganze Gesellschaft prägenden Werteverlust
die in der Vergangenheit offiziell verbreitete materialistische
Ideologie zu ähnlichen Ergebnissen führt, als die vom Westen
importierte säkularisierte Weltanschauung, die ausschließlich die
individuellen materiellen Interessen betont. Es gibt viele, die keine
Zukunftshoffnung haben, die es nicht gelernt haben bewußt und
verantwortungsvoll zu planen und wenn notwendig im Interesse der
eigenen besseren Zukunft auch Opfer zu akzeptieren. Bei jungen Leuten,
wo das Fehlen von Perspektiven alles bisherige übersteigt und die
Störungen der gesellschaftlichen Integration weiter wachsen, ist diese
Verhaltensweise besonders beängstigend.
90. Ein bedauerlich großer Teil der Ehen
ist
oberflächlich, löst sich auf, erfüllt weder ihre menschliche, noch ihre
sakramentale Funktion. In Ermangelung eines Zuhauses und dauerhafter
menschlicher Beziehungen verlieren viele Menschen ihr inneres
Gleichgewicht, ihre menschlich-moralische Haltung und statt der
Gemeinschaft und dem Wohl der anderen zu dienen, werden sie zu
Parasiten am Körper der Gesellschaft oder verschwenden mit schädlichen
Laster ihr Leben und ihr Glück. Nicht nur die Zahl der
Ehescheidungen ist sehr hoch, sondern es gibt auch viele, die von
vornherein lebenslangen Bindungen abgeneigt sind: immer mehr Menschen
leben mit Lebensgefährten ohne Eheschließung. Es ist ebenfalls
bedauerlich, daß das Zusammenleben von Menschen des gleichen
Geschlechts von den Medien oft positiv eingeschätzt wird. So akzeptiert
auch die Öffentlichkeit immer mehr, was früher als naturwidrig
angesehen wurde und unserer christlichen Auffassung nach völlig
unannehmbar ist.
91. Der fast unumkehrbaren Veränderung der
Familienstruktur und der Abnahme der Zahl der zur Welt gebrachten
und aufgezogenen Kinder zufolge bleibt die Mehrheit der alten
Menschen allein. Ihre Versorgung bleibt im wesentlichen der
Gesellschaft überlassen, die jedoch das Problem nicht meistern kann.
Viele alte Leute haben nicht einmal genug Geld um die zu ihrer
Gesundheit notwendigen Medikamente und die alltäglichen Lebensmittel zu
bezahlen. Es gibt noch mehr solche Menschen, die mit der Bedrohung des
Alleinbleibens konfrontiert werden, entweder weil sie keine Verwandte
oder Freunde haben, die sich um sie kümmern könnten oder weil ihre
Kinder, oder ihre Verwandte sich nicht um sie kümmern.
92. Wegen der hohen Zahl der Scheidungen
gibt es
sehr viele alleinerziehende Elternteile. Die existenziellen
Schwierigkeiten zwingen auch in den heilen Familien fast immer beide
Eltern zur Berufstätigkeit, oft sogar zur Annahme von Zweit- und
Drittstellen. Damit sind die Voraussetzungen für eine gesunde
Kindererziehung in den meisten Familien nicht gegeben. In manchen
Schichten der Gesellschaft erhalten die Kinder, die
heranwachsende Generation, am Anfang ihres Lebens oft nicht einmal
eine minimale Erziehung, obwohl die Kinder ein Recht nicht nur auf
das Leben, sondern auch auf eine menschenwürdige Erziehung haben. Die
rechtliche Schutzlosigkeit der Kinder hat sich gleichfalls nicht
gemindert, und die politische Vertretung ihrer langfristigen Interessen
ist praktisch unmöglich.
93. Eine besondere Aufmerksamkeit verdienen
die
Familien, die Kinder erziehen, insbesondere die kinderreiche
Familien. In den meisten unter ihnen wird ein ideales Familienleben
verwirklicht: die Kinder bekommen eine sorgfältige Erziehung und lernen
die Art und Weise der richtigen Lebensführung in einer guten,
gemütlichen Familienatmosphäre. Im anderen Teil der kinderreichen
Familien erhalten die heranwachsenden Kinder - vor allem aus
wirtschaftlichen und kulturellen Gründen - kaum eine Erziehung, ihre
zukünftige Chancen sind viel schlechter als die der Kinder in den
Familien, wo es weniger Kinder gibt. Es gilt jedenfalls im allgemeinen,
daß die Eltern, die sich auf die Erziehung mehrerer Kinder einlassen,
höhere finanzielle Lasten auf sich nehmen müssen.
94. Es könnten viele Erscheinungen
aufgelistet
werden, die in Erwägung gezogen werden sollten. An dieser Stelle
möchten wir lediglich einige Beispiele erwähnen:
(a) Das kulturelle Leben wurde früher von der
zentralen
Lenkung durch die Partei gelähmt, jetzt wird es durch den finanziellen
Zusammenbruch bedroht; die Gesellschaft wird dabei mit ?Kulturartikeln?
überhäuft, die eine dürftige Qualität, und die Persönlichkeit
schädigende Auswirkungen haben.
(b) Das kulturelle Leben hat sich in einigen
Regionen
des Landes, vor allem in der Hauptstadt, in den vergangenen Jahren
erfreulich belebt, das System der kulturellen Institutionen hat sich
radikal verändert - als Folge von gesellschaftlichen und bürgerlichen
Initiativen.
(c) Es ist eine typisches Phänomen heutzutage, daß
wenn
sich innerhalb der Gesellschaft der Zustand einer Gruppe
verschlechtert, diese nur sehr selten die Möglichkeit besitzt, ihre
Situation zu verbessern. Der soziale Aufstieg verlief in den
vergangenen Jahrzehnten in erster Linie auf politischen Bahnen,
heutzutage verbreiten sich die Hemmungslosigkeit und eine maßlose
Bereicherung. Die Privilegien, die mit dem materiellen Wohlstand
erworben werden setzen sich auch im kulturellen Leben durch.
95. Die zwischenmenschlichen Beziehungen,
die
zivilen, also von unten initiierten, freiwilligen Zusammenschlüsse der
Gesellschaft sind in der Vergangenheit bewußt zurückgedrängt
worden. Es gab kaum die Möglichkeit für freie Meinungsäußerung,
für selbständiges Denken und für die Bildung von Gemeinschaften. Die
Menschen wurden daran gewöhnt, ihre Meinungen den zentral gelenkten
Medien anzupassen. Diese Situation hat sich seit 1989-1990 leider nicht
wesentlich verändert. Dieser Zustand zeigt sich auf mehreren Gebieten.
96. Wir sind nicht in der Lage in unserem
Privatleben, noch in der gesellschaftlichen Dimension, wirksame und
erfolgreiche Konfliktlösungen zu finden. Die Meinungen und
Wertordnungen, die verschiedene Handlungsrichtungen widerspiegeln
können sich im gesamtgesellschaftlichen Maßstab nicht klar zum Ausdruck
zu bringen, sie können einander nicht begegnen, und sie können sich
nicht zum Wohl der Gesellschaft verständigen. Es fehlt ein geeigneter
Dialog für die Aufhebung oder Klärung der wertlosen oder gar
wertwidrigen Ansichten und Auffassungen. So bleiben die
unterschiedlichen Meinungen, Lebensformen unausgetragen; der notwendige
gesellschaftliche Konsens über die grundlegenden Werte kommt nicht
zustande; und die freien, individuellen oder gemeinschaftlichen
Initiativen erhalten nicht den ihnen gebührenden Raum.
97. Wir waren bislang nicht
imstande,
unsere Vergangenheit zu bewältigen. Die Aufarbeitung
der Ereignisse der vergangenen Jahrzehnte ist grösstenteils noch nicht
erfolgt. Noch wichtiger wäre jedoch die Heilung der schädlichen Folgen
der Verletzungen, Ungerechtigkeiten und Verzerrungen, die sowohl die
Individuen, als auch die Gesellschaft erlitten haben.
Unsere Selbstwertung, sowohl vor uns selbst
und
voreinander, als auch was unseren Platz unter den Nationen betrifft,
zeigt schwere Störungen von gesellschaftlichem Ausmaß. Die Beurteilung
der Vergangenheit, des Selbstbewußtseins und der Selbstbewertung der
Nation hat das Gleichgewicht verloren; sie schwankt zwischen extremen,
häufig für parteipolitische Zwecke ausgenützten chauvinistischen und
rassistischen Übertreibungen, und Auffassungen, die die spezifischen
nationalen Werte unterschätzen und wirtschaftlich-pragmatische Nutzen
in den Vordergrund stellen.
98. Die Mehrheit der Massenmedien
trägt
nicht zum wahren Wohlergehen der Menschen bei, d.h. zur Förderung eines
harmonischen Lebens, einer gesunden Gesellschaft, der ethisch
einwandfreien Wirtschaft und eines sauberen öffentlichen Lebens. Ihre
Verpflichtung für die genaue, umfassende und sachliche Information
erfüllen die Medien nicht ausreichend, noch weniger die Aufgabe der
Erziehung der Individuen und der Gesellschaft. Die Beeinflußung der für
öffentlich-rechtlichen Funktionen bestimmten Hörfunk- und Fernsehkanäle
von der Parteipolitik und von dem Staat und ihre Abhängigkeit vom
Kapital scheinen zunächst erheblich zu sein. Es sollen noch viele
konstruktive Schritte getan werden (auch in der Gesetzgebung), damit
die Medien ihre Berufung tatsächlich zum Wohl der ganzen Gesellschaft
erfüllen.
99. Unter den Institutionen der Bildung und
der
Erziehung wollen wir die Aufmerksamkeit vor allem auf die
öffentliche Bildung, auf das Hochschulwesen und auf die
Erwachsenenbildung lenken. Wir halten es für ein schädliches
Phänomen, das schwerwiegende Konsequenzen nach sich ziehen kann, daß,
wie es scheint, diese Institutionssysteme im gegenwärtigen Ungarn nicht
als besonders wichtig angesehen werden; die zu ihrer Tätigkeit
unerläßlichen Voraussetzungen werden nicht gesichert, und auch ihre,
von unserer Zeit erforderte Umgestaltung erfolgt nicht im beruhigenden
Ausmaß. Keine der erwähnten Gebiete wird zu den für die Gesellschaft
lebenswichtigen Zweigen gezählt. Das zeigt sich in erster Linie darin,
daß das Bildungswesen gegenwärtig auf keiner Ebene jene minimale
Kostendeckung bekommt die für die Aufrechterhaltung des gegebenen
Niveaus notwendig wäre - von einer Weiterentwicklung gar nicht erst zu
sprechen.
Es gilt allgemein, daß die Gesellschaft nicht
ausreichend für die Zukunft der jungen Generation sorgt; die notwendige
Anerkennung und Akzeptanz des (allgemeinen) Bildungswesens
wird nicht gesichert; die Lehrer sehen sich
gezwungen, als Folge der niedrigen Löhne, zusätzliche Arbeiten
anzunehmen. Deshalb sind sie überfordert, die Schulen bekommen keine
ausreichende Unterstützung für ihre Tätigkeit; der Staat ermöglicht
nicht den für die gesellschaftliche Vielfalt notwendigen
institutionellen Pluralismus im Bildungswesen.
100. Über den Inhalt der Bildung hat
sich
bis zum heutigen Tag kein beruhigender Standpunkt herausgebildet. Die
seit mehreren Jahren andauernden und einander oft kreuzenden
Erneuerungsversuche (insbesondere in den Diskussionen über die
Einführung eines sog. ?Nationalen Grundcurriculums?) sind bislang zu
keinem wohl fundierten Endergebnis gekommen. Deshalb soll man danach
streben, daß jede weitere Entscheidung erst nach gründlichen
Vorüberlegungen erfolgt und daß der zunächst nicht existierende Konsens
erreicht wird, damit die in den Schulen bereits spürbare Unsicherheit
nicht weiter gesteigert wird.
101. Das allgemeine Bildungswesen und vor
allem
das System der Fachausbildung erfüllt immer weniger die in unserer
gegenwärtigen Gesellschaft ihm zukommenden Aufgaben. Immer neue
Generationen treten in Wirklichkeit unvorbereitet, mit einem, für die
Gesellschaft unnützen Wissen in das Leben.
Das (öffentliche) System der Bildung sichert kaum
irgendwelche, oder gar keine Nachholmöglichkeiten für die Benachteiligten.
Beachtliche Schichten werden damit vernachlässigt und aus der
Werteproduktion der Gesellschaft ausgeschlossen; somit erfüllt das
Bildungswesen seine grundlegendste gesellschaftliche ?Leistung? nicht,
nämlich den Dienst am Wohlergehen eines jeden Individuums.
Es ist also gar nicht überraschend, daß vor allem
Kinder, die ohne Familien, in staatlichen Pflegeheimen
oder auf der Straße aufwachsen, nicht jene Art der Erziehung
erhalten, die sie zu für die Gesellschaft und für ihre Mitmenschen
nützlichen Staatsbürger und zu verantwortungsvollen Persönlichkeiten
formen würde. Sie werden so viel leichter zu Opfer der verschlechterten
gesellschaftlichen Verhältnissen und somit zu Kriminellen.
102. Weder von den einzelnen Menschen, noch
von
der heutigen Gesellschaft wird die Bedeutung der kontinuierlichen
Bildung und der Umschulung erkannt. Diese Tatsache trägt auch
dazu bei, daß trotz aller sichtbaren Bemühungen, das existierende
institutionelle System der über die allgemeine Bildung hinaus
notwendigen Umschulung nicht als befriedigend angesehen werden kann,
obwohl dieses - zusammen mit anderen Institutionen - zur Lösung des
Problems der Arbeitslosigkeit, oder zumindest zu deren Minderung
wesentlich beitragen könnte.
103. Es soll betont auf die immer schärfere,
allmählich
für die ganze Gesellschaft sichtbare und spürbare Verschlechterung der
Situation des ungarischen Hochschulwesens hingewiesen werden.
Das Hochschulwesen ist nicht einfach eine wichtige Institution der
gesellschaftlichen Reproduktion innerhalb des Bildungswesens, sondern
eine exzeptionell wichtige Einrichtung. Hier bekommen diejenigen die
notwendige Bildung, die an die Stelle ihrer Vorgänger treten und die
Lasten der Lenkung und Leitung der Gesellschaft auf sich nehmen werden.
Die Gesellschaft der Jahrtausendwende wird weder ohne Spezialisten noch
ohne der als schöpferisch bezeichneten Intelligenz auskommen können -
viel weniger als je zuvor. Wegen der akademikerfeindlichen Politik der
vergangenen Jahrzehnte sowie auch aus ideologischen Gründen ist das
Hochschulwesen auf ein solch tiefes Niveau gesunken, daß deshalb unsere
Chancen bei der europäischen Integration von vornerein schlechter sein
werden, auch wenn wir auf einigen wissenschaftlichen Gebieten noch
immer stolz auf unsere hervorragende Ergebnisse sein können. Die Zahl
derjenigen, die einen akademischen Abschluß haben, ist viel niedriger
als es notwendig wäre.
104. Es gibt Unstimmigkeiten um die in den
letzten Jahren wiederentstandenen neuen konfessionellen
Bildungsinstitutionen. Einige wollen anscheinend keine Kenntnis
davon nehmen, daß eine beachtliche Gruppe der Staatsbürger ihre, in der
Verfassung garantierten Rechte in Anspruch nehmen will und den Wunsch
äußert, daß ihre Kinder eine religiöse Erziehung erhalten und eine
konfessionelle Schule besuchen. Der Ausbau eines, dem
gesellschaftlichen Bedarf entsprechenden konfessionellen Schulnetzes
gehört zur Errichtung des demokratischen Rechtstaates. Es ist weiterhin
auch nicht allen bekannt, daß nach dem Gesetz 1990./IV. über die
Gewissens- und Religionsfreiheit die konfessionellen Schulen ein
Anrecht auf die gleiche Finanzierung vom Staat haben, wie andere
Schulen. Der Unterricht und die geistige Bildung der heranwachsenden
Generation ist Aufgabe des Staates und der Gesellschaft. Deshalb wäre
es notwendig ein vom gesellschaftlichen Sektor unabhängiges
Finanzierungsprinzip zu erreichen, laut dessen den konfessionellen
Schulen, die öffentliche Aufgaben übernehmen, die gleiche finanzielle
Untertützung wie den staatlichen Schulen zusteht. Es kann zunächst noch
nicht gesagt werden, ob diese Konfrontation der Werte und die daraus
resultierenden Konflikte lediglich vorübergehende Störungen der
Wendezeit sind, oder ob sie für eine längere Periode zut Kenntnis
genommen werden müssen.
105. In gesunden Gesellschaften geschieht
die Erziehung
der Kinder auf drei Ebenen: in
den Familien, in der Schule und in der Gesellschaft selbst. Die
Familie, die für die Erziehung gegenwärtig an erster Stelle
verantwortlich ist, kann oder will in der Mehrheit der Fälle diese ihre
Funktion nicht erfüllen; sie sichert den Kindern kein Milieu der
Erziehung und der Pflege. In der Gesellschaft, im ?Leben? und
bedauernsweise nicht zuletzt in den Medien, vor allem im Fernsehen,
artikulieren sich mehr die negativen Wirkungen und Beispiele, als die
positiven Wirkungen mit erzieherischem Wert. So ist die Schule der
letzte Zufluchtsort der Erziehung geblieben. Das ungarische
Bildungswesen ist aber auf diese Aufgabe weder vorbereitet, noch sieht
es als seine Pflicht an. Wir können anmerken, daß nicht einmal die
beste Schule in sich allein, die Mängel der familiären und der
gesellschaftlichen Erziehung ausgleichen und die schädlichen
Einwirkungen die das Kind getroffen haben ausgleichen kann. Durch die
Zusammenarbeit aller Kräfte die eine Verantwortung für die Zukunft des
Landes empfinden sollte die Aufgabe der Erziehung wieder zu einer
Angelegenheit von öffentlichem Interesse gemacht werden.
106. Das System unserer
Bildungsinstitutionen
soll als ein Gebiet von besonderer Bedeutung angesehen werden.
Einerseits soll dem Prestige des Wissens, dem Wert der fleißigen und
ehrenhaften Arbeit und jenen grundlegenden Werten ohne die keine
menschliche Kultur auf lange Sicht existieren kann (solche Werte sind
unter anderen: die Zuverlässigkeit, die Ehrlichkeit, der Fleiß, die
Initiativfähigkeit, das Verantwortungsgefühl den Mitmenschen und dem
Gemeinwohl gegenüber, die Achtung anderer Nationen, die Heimatliebe und
die Achtung der Tradition) die gesellschaftliche Akzeptanz und Achtung
zurückgegeben werden. Andererseits wäre es notwendig, die weitere
Zerstörung der Werte zu verhindern. Die grundlegenden Richtlinien des
allgemeinen Bildungswesens sollten nicht nur den Umfang und den Inhalt
des anzueignenden Wissens, das zeitgemäße Bildungsideal umreißen,
sondern sie müssten auch das Ideal des wahren und vollständigen
Menschen festhalten.
107. Sowohl in finanzieller, als
auch in
moralischer Hinsicht soll den Familien geholfen werden,
ihrer Erziehungsaufgabe besser nachkommen zu können, damit die
grundlegenden Werte in der Kindheit, innerhalb der Familie vermittelt
werden können. In der Öffentlichkeit soll eine kinder- und
familienfreundliche Atmosphäre geschaffen werden: die gedruckten und
die elektronischen Medien haben in dieser Vermittlung eine besonders
wichtige Rolle zu übernehmen. Die Herstellung und Verbreitung von
elektronischen Unterhaltungsprogrammen (sei es im Fernsehen oder auf
Videokasetten) die Gewalt und Pornographie verherrlichen muß
eingeschränkt werden.
Unser Bildungssystem soll den benachteiligten
Jugendlichen eine besondere Aufmerksamkeit widmen: den körperlich
und/oder geistig Behinderten, denjenigen Jugendlichen, die in
Kinderheimen heranwachsen, denen, die mit Anpassungsstörungen kämpfen
oder die ganz jung Opfer des Alkohols, der Drogen und der ziellosen,
sinnlosen, rechtswidrigen Lebensweise wurden. Für die Prevention oder
zumindest Minderung der Jugendkriminalität und der Selbstmorde sollen
langfristige und wirksame Programme ausgearbeitet werden, abgestützt
auf die Zusammenarbeit von staatlichen Institutionen und
gesellschaftlichen Initiativen. Es wäre auch wichtig, daß der Staat die
für die Beseitigung dieser Probleme gegründeten freiwilligen
Bürgerinitiativen, Organisationen unterstützt.
Es soll alles getan werden, um die Zahl der in
staatlichen Kinderheimen aufwachsenden Kinder radikal
zu mindern und sie in eine Umgebung zu versetzen, wo sie sich
menschlich am besten entfalten können. Der Staat soll all jene
konfessionellen und gesellschaftlichen Initiativen unterstützen, die
die Versorgung und Pflege von gefährdeten Familien, Alkoholiker,
Drogenabhängiger, Strafgefangenen und Haftentlassener auf sich nehmen.
108. Unsere Kultur kann sich erst dann
wieder
verstärken und der nachkommenden Generation zu einer glücklicheren
menschlichen Existenz verhelfen, wenn wir in uns eine Verantwortung für
die Zukunft und eine mit wahren Werten geleitete, bewußte Lebensführung
entwickeln können; und wenn wir ein reales und erreichbares Zukunftsbild
und Wertesystem der nächsten jungen Generation weitergeben
können. Der größte Schatz der Gesellschaft ist in jenen Jugendlichen
verborgen, die sich bewußt darauf vorbereiten, im Dienste der
Gesellschaft und der Menschheit, ein wertvolles Leben zu leben. Gerade
deswegen ist die aufeinander abgestimmte Bemühung des Staates und der
ganzen Gesellschaft notwendig, damit das Prestige und die Hochschätzung
der Schule und der Lehrer wieder wachsen. Eine schlecht bezahlte, nicht
aus Berufung arbeitende Lehrkraft wird das Fehlende, die manche Schüler
von zu Hause mit sich tragen, sicherlich nicht ersetzen können. Der
Staat, die Behörden, die das allgemeine Bildungswesen tragen, sollen
für die angemessene Gehälter der Lehrkräfte sorgen. ?Daher ist dafür
Sorge zu tragen, daß die Kulturgüter in ausreichendem Maße allen
zugänglich sind, vor allem jene, die die sogenannte Grundkultur
ausmachen.? ?Ziel muß also sein, daß alle, die entsprechend begabt
sind, zu höheren Studien aufsteigen können (...). So werden jeder
einzelne und alle gesellschaftlichen Gruppen (...) zur vollen
Entfaltung ihres kulturellen Lebens gelangen können, wie sie ihren
Anlagen und Überlieferungen gemäß ist.? (GS 60).
109. Im Prozeß des Wandels soll ein
umfassendes Programm der Erziehung, der Bildung und der Kultur ein
angemessenes Gewicht bekommen. Die Norm gilt, ?daß die Kultur auf
die Gesamtentfaltung der menschlichen Person und auf das Wohl der
Gemeinschaft sowie der ganzen menschlichen Gesellschaft auszurichten
ist. Darum muß der menschliche Geist so gebildet werden, daß (...) das
religiöse, sittliche und gesellschaftliche Bewußtsein gefördert
werden.? (GS 59). Die Kirche bietet in diesem Rahmen die Werte des
Evangeliums und die Schätze ihrer eigenen zweitausendjährigen Tradition
an, sowie ihre Dienste zu der Erziehung und Bildung. Es gibt weltweit
zahlreiche Signale dafür, daß der Verzicht auf die traditionelle
Wertordnung die Existenz der Menschheit gefährdet. Das System des
Parteistaates hat, nach dem Zweiten Weltkrieg, in großem Maße zu der
Zerstörung der stabilen moralischen Werte beigetragen. Es hat jene
Gemeinschaften zerstört und jene Institutionen aufgelöst oder
geschwächt, die die genannten Werte vermittelten. Auf den
übriggebliebenen Ruinen konnten sich die fast unbegrenzte
Zügellosigkeit und das auf das Materielle bedachte, egoistische
Konsumverhalten leicht und fast widerstandslos verbreiten. Das
Christentum dient der Menschheit, indem es die für die
Aufrechterhaltung der menschenlichen Existenz unerläßlichen Werte und
Wahrheiten übermittelt. ?Vielfache Beziehungen bestehen zwischen der
Botschaft des Heils und der menschlichen Kultur.? ?Die gute Botschaft
Christi (...) reinigt und hebt die Sitten der Völker. Die geistigen
Vorzüge und Anlagen eines jeden Volkes oder einer jeden Zeit befruchtet
sie sozusagen von innen her mit überirdischen Gaben, festigt, vollendet
und erneuert sie in Christus.? (GS 58).
110. Es ist die Aufgabe des Staates und eine
Gewissensverpflichtung für jedes einzelne Mitglied der Gesellschaft,
all jene Initiativen zu unterstützen, die der Veredelung der
Lebensweise, der Erziehung zu grundlegenden menschlichen Werten, der
Kultur des öffentlichen Lebens und des Lebens der Familie dienen. ?Aufgabe
der öffentlichen Gewalt ist es (...) günstige Voraussetzungen zu
schaffen und entsprechende Hilfen zu gewähren, um das kulturelle Leben
bei allen, auch bei nationalen Minderheiten zu fördern.? (GS 59).
Es ist notwendig, daß die öffentlich-rechtlichen
Massenmedien objektive, genaue und umfassende Informationen über die
Ereignisse der Welt und des Landes geben. Sie sollen, statt Gegensätze
zu entfachen, zum Dialog in der Gesellschaft beitragen; in den Aufgaben
der Erziehung teilnehmen; und die Menschen unter Beachtung der Moral
und der Menschenwürde unterhalten.
?Es gibt also in der menschlichen Gesellschaft ein
Recht
auf Information über alle Tatsachen, die den Menschen, als einzelnen
oder als Mitgliedern der Gesellschaft, je nach ihrer besonderen
Situation zu wissen zukommt. Der richtige Gebrauch des Rechtes fordert
aber, daß die Mitteilung inhaltlich stets der Wahrheit entspricht und
(...) vollständig ist.? (IM 5). ?Die Kirche erblickt in ihnen »
Geschenke Gottes«
, weil sie (...) die Mernschen brüderlich verbinden.? (CP 2). ?Jede
Kommunikation muß unter dem obersten Gesetz der Aufrichtigkeit,
Zuverlässigkeit und Wahrheit stehen.? (CP 17).
111. Die Kirche selbst trägt ebenfalls zum gesellschaftlichen
Dialog und dem erwünschten allgemeinen Konsens
bei, indem sie innerhalb der kirchlichen Gemeinschaften die
verschiedenen Formen des ehrlichen und brüderlichen Dialogs
unterstützt; sie will darüber hinaus auch an der Gestaltung der
öffentlichen Meinung und an der Vergemeinschaftung der Gesellschaft
aktiv beteiligen. ?Besseres Verständnis und Rücksichtsnahme unter den
Menschen, Hilfsbereitschaft und schöpferische Zusammenarbeit, wie sie
durch die soziale Kommunikation gefördert werden können, sind in der
Tat Ziele, die mit denen des Gottesvolkes nicht nur im Einklang stehen,
sondern von daher sogar noch tiefer gesichert und vervollkommnet
werden.? (CP 18).
Schlußwort
112. Zahlreiche Probleme haben wir
aufgezählt,
zahlreiche Aufgaben beleuchtet. Wir haben all das nicht aus der Sicht
des kritischen Außenseiters getan, sondern im Bewußtsein, daß die
Kirche auch heute ein Teil des Lebens der Gesellschaft ist, wie sie ihr
integrativer Teil war ein Jahrtausend hindurch. Wie können all diese
Aufgaben und auch jene, die noch vor uns liegen verrichtet werden? Die
schmerzlichen Probleme und die tiefreichenden Veränderungen unserer
Gegenwart rufen uns zur Vereinigung aller Kräfte auf. Nicht nur die
rechte Funktionsweise unserer Rechtsordnung, unseres politischen
Systems und des wirtschaftlichen Lebens sind in Gefahr, sondern auch
unsere moralische, kulturelle und menschliche Existenz. Viele werden
entmutigt oder ungeduldig gemacht durch die auf uns ruhenden Lasten,
durch die Krisenerscheinungen, durch den Ausmaß der Aufgaben. Die
katholische Kirche, ihre Leiter und ihre Gläubigen, können sich nicht
und werden sich auch nicht diesen Aufgaben entziehen. Indem sie die
Verbindung zu den Mitgliedern und den Organisationen der Gesellschaft
suchen nehmen sie die auf sie fallenden Aufgaben und Pflichten an. Auch
mit diesem Hirtenbrief wollten wir das betonen. Möge der Prozeß der
Entfaltung noch so undurchsichtig erscheinen, wir verlieren unsere
Zuversicht nicht. Wir wissen von Jesus Christus, wozu Gott den Menschen
erschaffen und eingeladen hat, wie der Mensch sich entfalten kann, auf
welche Weise er seine Lebensumstände verbessern und Frieden und Glück
in der Gesellschaft schaffen kann. Christus hat uns zur Hoffnung
eingeladen und wir vertrauen darauf, daß die Hoffnung auf eine
glücklichere Zukunft uns allen Entschlossenheit und Kraft verleiht, um
zusammen und in einer gemeinsamen Verantwortung die Zukunft des Landes
zu gestalten.
Die im Text verwendeten Abkürzungen:
AA = Apostolicam Actuositatem
CA = Centesimus annus
CP = Communio et progressio
DH = Dignitatis humanae
GS = Gaudium et spes
IM = Inter mirifica
KEK = Katechismus der Katholischen Kirche
LE = Laborem exercens
MM = Mater et magistra
OA = Octogesima adveniens
PT = Pacem in terris
QA = Quadragesimo anno
RN = Rerum novarum
SRS = Sollicitudo rei socialis