Für eine gerechtere und brüderlichere Welt!

Einführung

1. Die Sozialen Verhältnisse und das Gesundheitswesen

2. Das Wirtschaftsleben

3. Staat und Politik

4. Die Kultur

Schlusswort


Einführung

Das Motiv und die Adressaten des Hirtenbriefes

1. Die Kirche ist beauftragt, das Evangelium in allen historischen Situationen zu verkünden, den Weg zur Ewigkeit zu zeigen, und im Bewußtsein dieses Auftrags Kriterien zur Führung unseres diesseitigen Lebens zu geben. Dieser Auftrag macht uns ungarische Katholiken dafür verantwortlich, daß wir zum 1100jährigen Jubiläum des ungarischen Staates, und zum tausendjährigen Bestehen der katholischen Kirche Ungarns und an der Schwelle eines neuen Jahrtausends uns mit der gegenwärtigen Lage unseres Landes, mit dem Leben der hier lebenden Menschen auseinandersetzen: mit den hoffnungsvollen Chancen und Möglichkeiten, die die Wende uns 1989-1990 eröffnet hat. Aber wir dürfen die Augen auch vor den Sorgen nicht verschließen, die die Gesellschaft bedrücken.

2. In Europa und auch in Ungarn sind in den letzten Jahren tiefgreifende Veränderungen eingetreten. Wie mehrere Länder auf diesem Kontinent, so gewann auch Ungarn seine Freiheit und Unabhängigkeit zurück. Es konnte die Gestaltung seines Schicksals wieder in die eigene Hand nehmen, um eine menschlichere, glücklichere Zukunft aufzubauen. Angesichts dieser Veränderungen sind wir vor Gott vom Gefühl des Dankes erfüllt. Wir danken auch denjenigen, die diesen Wandel, wissend, wie mühselig und riskant er war, vorbereitet und durchgeführt haben,

3. Es ist eine neue Epoche in der Geschichte Ungarns angebrochen. 1989-1990 erfüllte viele von uns mit der Hoffnung, daß das Ende der jahrzehntelangen Abhängigkeit und des diktatorischen Einparteiensystems, bzw. daß, die Geburt eines demokratischen Rechtsstaates den Wohlstand bringt. Bald mußten wir aber erkennen, daß das Gelobte Land noch weit ist. Viele wurden von der Illusion erfüllt, die politische Freiheit würde automatisch das Glück bedeuten. Es mußten Jahre vergehen, bevor wir begreifen konnten, was für Schäden die vergangenen Jahrzehnte nicht nur im politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben, sondern auch in der Moral und im Wertsystem der Bürger verursacht haben. Es dürfen allerdings auch die Werte nicht vergessen werden, die viele von uns auch in den vergangenen Jahrzehnten vertreten haben und auch jetzt vertreten. Trotz alledem braucht man noch lange Zeit um zu klären, welchen Weg das Land gehen muß, um die Bedingungen eines freien und glücklichen menschlichen Lebens für alle Bürger und Schichten der Gesellschaft schaffen zu können.

4. Selbstverständlich haben sich in der von Grund auf veränderten gesellschaftlichen und politischen Situation viele unterschiedliche Vorstellungen entwickelt, wie man die neuentstehende ungarische Demokratie gestalten soll. Es ist aber bedauernswert, daß die Gesellschaft in vielen wichtigen Fragen auch nach Jahren zu keinem Konsens kommen konnte, und daß es nicht zu einer echten, die langfristigen Interessen des Landes berücksichigenden gesellschaftlichen Einheit gekommen ist. Es ist noch mehr schmerzlich, daß die Interessen der Individuen und verschiedener gesellschaftlichen Gruppen sich oft gegeneinander richten - und daß dabei auch die Unsicherheiten der Veränderungen ausgenützt werden. Viele wollten nur ihre eigenen Interessen durchsetzen, andere strebten nur danach den größtmöglichen Teil aus der politischen Macht oder aus dem Vermögen der Gesellschaft oder aus beiden zu erwerben. In diesen Phänomenen sind die Konsequenzen der Politik der vergangenen Jahrzehnte deutlich zu erkennen. Die einzelnen Menschen und Gruppen wurden bewußt voneinander isoliert. Die überwiegende Mehrheit der gesellschaftlichen Organisationen, darunter auch die konfessionellen, wurde aufgelöst. Die Tätigkeit derer, die doch existieren durften, wurde behindert. Die Beziehungen im öffentlichen Leben wurden unter eine zentrale Reglementierung gestellt. All das führte zur Atomisierung der Gesellschaft und zu einem landesweiten Mißtrauen.

5. Die hier angeführten Faktoren trugen dazu bei, daß man sich - trotz entscheidenden Veränderungen und erfreulichen Entwicklungen in vielen Bereichen - in den letzten Jahren mit immer schwerwiegenderen Krisensymptomen auseinandersetzen muß. Die Ungarische Bischofskonferenz hat - aufgrund ihrer von Christus erhaltenen Sendung und geleitet von dem christlichen Verantwortungsbewußtsein für das Land - den in Ungarn ablaufenden Entwicklungen von Anfang an besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Sie hält es für ihre unaufschiebbare Pflicht, zu dieser geschichtlich wichtigen Zeit, sich zu Wort zu melden, um im Lichte des Evangeliums die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Lage des Landes zu bewerten. Deshalb wendet sie sich jetzt an all ihre Gläubigen und an alle ungarischen Staatsbürger guten Willens. Sie handelt im Einklang mit dem Willen Christi und im Geiste des Zweiten Vatikanischen Konzils, indem sie die Sorgen und die Freude jedes Menschen, und der ganzen Nation teilt. ?Es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in den Herzen der Jünger Christi seinen Widerhall fände? (GS1). Sie will an der Erschließung gemeinsamer Sorgen und an der Suche nach Auswegen teilnehmen, indem sie die Werte und Deutungen der christlichen Soziallehre darlegt: ?Ganz besonders wünsche ich, daß sie in den verschiedenen Ländern bekanntgemacht und in die Tat umgesetzt wird, wo sich nach dem Zusammenbruch des realen Sozialismus eine ernste Desorientierung beim Werk des Neuaufbaus zeigt? (CA 56) - schrieb Papst Johannes Paul II. Seine Worte werden besonders durch seinen zweiten Besuch in Ungarn aktuell.

6.Wir richten unsere Worte in erster Linie an die Gläubigen. Wir wollen uns aber an jeden Bürger des Landes, an Gläubige und an Nichtglaubende wenden, denen das Schicksal ihres Landes wichtig ist, die nach dem Aufbau einer freieren und menschlicheren Welt streben. Wir wollen hoffen, daß unser Ruf von möglichst vielen gehört und verstanden wird, und daß ein Dialog und dadurch eine Zusammenarbeit entstehen kann.

Die Intellektuellen sind hier mit besonderem Gewicht angesprochen. Gleichzeitig wenden wir uns an die christlichen Intellektuellen, die an ihre besondere Verantwortung erinnert werden sollen, und an den Teil der Intellektuellen die sich christlich nicht engagieren, damit wir in der größtmöglichen Einheit für unsere gemeinsamen Ziele arbeiten können.

Die Evangelisierung und der Aufbau der Gesellschaft

7. Einige stellen vielleicht die Frage, warum unsere Bischofskonferenz sich zu gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fragen äußert, zumal die Aufgabe der Kirche in der Evangelisierung besteht. Die Verkündigung des Evangeliums schließt aber nicht aus, sondern im Gegenteil schliesst in sich auch die Aufgabe der Gemeinschaft der Christen und aller Glieder dieser Gemeinschaft ein, sich für die Verbesserung des Lebens der Einzelnen und für die Errichtung einer gerechteren und brüderlicheren Gesellschaft einzusetzen. ?In der Tat, die Verkündigung und Verbreitung der Soziallehre gehört wesentlich zum Sendungsauftrag der Glaubensverkündigung der Kirche; sie gehört zur christlichen Botschaft, weil sie deren konkrete Auswirkungen für das Leben in der Gesellschaft vor Augen stellt und damit die tägliche Arbeit und den mit ihr verbundenen Kampf für die Gerechtigkeit in das Zeugnis für Christus den Erlöser miteinbezieht. Sie bildet darüber hinaus eine Quelle der Einheit und des Friedens angesichts der Konflikte, die im wirtschaftlich-sozialen Bereich unvermeidlich auftreten.? (CA 5).

8. Das Evangelium ist nicht nur für das Individuum, sondern auch für die Gesellschaften eine Gute Nachricht.

(a) Es ist Teil der christlichen Sendung, die Welt besser und schöner zu machen. Das Erlösungswerk Christi, das ursprünglich auf das Heil der Menschen ausgerichtet war, schliesst auch die Erneuerung der diesseitigen Ordnung in sich ein. So soll die Kirche nicht nur die Botschaft und Gnade Christi verkünden, sondern sie muß auch die diesseitige Ordnung mit dem Geist des Evangeliums durchdringen und vervollkommnen. (AA 5).

(b) Von diesem Interesse geleitet bemühte sich die Kirche - besonders im Laufe des letzten Jahrhunderts - anhand der evangelischen Werte, auch in konkreten sozialen Fragen Antworten zu geben, d.h. sie hat wiederholt ihr prophetisches Wort erhoben. ?Die Kirche muß in bestimmten menschlichen Situationen, sei es auf individueller oder sozialer, nationaler oder internationaler Ebene, das Wort ergreifen. Dafür hat sie eine eigene Soziallehre formuliert, die es ihr ermöglicht, die soziale Wirklichkeit zu analysieren, sie zu beurteilen und Richtlinien für eine gerechtere Lösung der entstehenden Probleme anzugeben.? (CA 5).

(c) Die Beteiligung am Leben und Handeln der Gesellschaft ist eine allgemeine menschliche und christliche Pflicht. ?Bei allen muß daher der Wille zur Mitwirkung an gemeinsamen Werken geweckt werden.? (GS 31). ?Die Christen sollen in der politischen Gemeinschaft jene Berufung beachten, die ihnen ganz besonders eigen ist.? (GS 75).

(d) Es ist die Pflicht der Gemeinschaften der Christen eines jeden Landes die Situation ihres Landes der Wirklichkeit entsprechend zu analysieren und mit dem Lichte des Evangeliums zu beleuchten. Sie sollen die Prinzipien der Analyse, die Kriterien des Situationsberichtes und die Optionen des Handelns mit Hilfe der katholischen Soziallehre erarbeiten. Auf diese Aufgabe sind wir von Papst Paul VI. in seinem apostolischen Schreiben Octogesima adveniens aufmerksam gemacht worden, indem er die Verantwortung der Ortskirchen für die Lösung von konkreten, lokalen Problemen betont. ?Diesen einzelnen christlichen Gemeinschaften also obliegt es, mit dem Beistand des Heiligen Geistes, in Verbundenheit mit ihren zuständigen Bischöfen und im Gespräch mit den anderen christlichen Brüdern und allen Menschen guten Willens darüber zu befinden, welche Schritte zu tun und welche Maßnahmen zu ergreifen sind, um die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Reformen herbeizuführen, die sich als wirklich geboten erweisen und zudem oft unaufschiebbar sind.? (OA 4).

Das Ziel und die Themen des Sozialhirtenbriefes


9. Es ist uns inzwischen klargeworden: in diesem Land spielte und spielt sich nicht nur eine politische und wirtschaftliche Wende ab. Wir sind an viel komplexeren, teils konstruktiven, teils zerstörerischen Ereignissen beteiligt. Wir können kein Fundament der Zukunft errichten wenn wir diese nicht systematisieren, wenn wir ihre Gründe nicht darlegen, wenn wir keine Lösungsmöglichkeiten skizzieren. Um die Transformation des Landes erfolgreich fortsetzen zu können müssen wir zunächst unser Erbe der vergangenen Jahrzehnte überschauen. Das ist auf vielen Gebieten - besonders im Wirtschaftsleben - mindestens teilweise bereits geschehen, ist aber in vielen Bereichen noch nicht erfolgt. Es ist nicht unser Ziel, Sündenböcke ausfindig zu machen, für die angerichteten Schäden Individuen oder Gruppen an den Pranger zu stellen. Wir wollen stattdessen mit gemeinsamer Kraft nicht nur das wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Leben des Landes, sondern auch sein Wertbewußtsein (die moralische Werte inbegriffen) umgestalten, um allen, die in diesem Land leben beim Aufbau eines besseren, menschlicheren Lebens zu helfen, ohne dabei die Ungarn die außerhalb der Staatsgrenze wohnen zu vergessen.

10. Die Gläubigen und die Nicht-Glaubenden sollen sich für die Menschen, für uns alle, zusammenschließen. Keine Partei darf diese gemeinsame Anstrengung aus politischem Interesse für sich allein beanspruchen. Wenn die Ungarische Katholische Bischofskonferenz ihr Wort erhebt, will sie dadurch nicht Macht der Kirche vergrößern. Sie beabsichtigt nicht ihre eigenen Ansichten der Gesellschaft aufzuzwingen. Sie nimmt aber die ihr zukommende gesellschaftliche Verantwortung wahr und will ihren Beitrag an dem Aufbau des Landes leisten, ohne sich unter diesem Vorwand in die Parteipolitik einzumischen, da ?die Kirche, ... in keiner Weise hinsichtlich ihrer Aufgabe und Zuständigkeit mit der politischen Gemeinschaft verwechselt werden darf, noch auch an irgendein politisches System gebunden ist ...? (GS 76).

11. In unserem Hirtenbrief legen wir eine skizzenhafte Beschreibung der gegenwärtigen ungarischen Situation dar, freilich im Lichte der katholischen Soziallehre. Unsere Aufmerksamkeit richten wir auf das wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Leben, insbesondere auf die sozialen Verhältnisse, und schließlich auf einige Fragen der Kultur und Erziehung. All diese Themen hängen miteinander zusammen, daher ist es unvermeidlich, daß manche - immer unter einem anderen Blickwinkel - in mehreren Kapiteln vorkommen. Im Zusammenhang mit jedem Thema ist zunächst eine kurze Beschreibung der gegenwärtigen ungarischen Lage zu lesen. Daran schließen sich einige, keineswegs eine Vollständigkeit beanspruchende Schlußfolgerungen an, die sich vom christlichen Menschenbild und von der katholischen Soziallehre ableiten lassen. Es ist offensichtlich, dass die Aufgabe der Kirche nicht darin liegt, genaue Aktionspläne zur Lösung gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und kultureller Probleme unserer Zeit zu erarbeiten. Die hier zu lesenden Deutungen und Empfehlungen können aber den Experten und all den tatkräftigen Menschen unserer Gesellschaft bei der Suche nach Lösungen helfen.

Wir haben uns Mühe gegeben, unser Schreiben sowohl für die Gläubigen als auch für die Welt verständlich zu formulieren. Wir schreiben über unser diesseitiges Leben in der Sprache des Alltagsmenschen. Obwohl unser Hirtenbrief auf Fachanalysen beruht, haben wir uns bemüht die fachwissenschaftliche Sprache zu vermeiden um allgemeinverständlich zu bleiben.

2. Wir hoffen, daß dieses Schreiben das Interesse der Gläubigen und aller Menschen guten Willens weckt. Wir wollen auch hoffen, daß unsere Leser weiterdenken, und wenn nötig, präzisere Formulierungen finden, damit wir uns gemeinsam über die richtigen Lösungswege Gedanken machen können. Bei der Suche nach Lösungen können wir die christliche Lehre der Kirche auf die ungarischen Verhältnisse anwenden, und darunter auch diejenige Lösungen ausfindig machen, die wir zum Aufgabebereich der Kirche gehörend betrachten. Wir vertrauen darauf, daß die gemeinsame Arbeit, zu der dieser Hirtenbrief über die Analyse der ungarischen Gesellschaft unserer Zeit anregen kann, die Verantwortung der Christen für das Land und für ihre Mitmenschen fördern wird, und daß dadurch auch eine breitere Zusammenarbeit in der Gesellschaft in Gang gesetzt wird, damit der Analyse - auch innerhalb der Kirche - Taten folgen, und damit Ungarn - diese seltene historische Chance nutzend - einen Schritt in eine glücklichere Zukunft macht.

1. Die sozialen Verhältnisse und das Gesundheitswesen

A. Situationsanalyse

Soziale Spannungen, Verarmung

13. Grundlegende gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Veränderungen vollziehen sich heute in Ungarn. Die radikalen Wandlungen werden von großen Schwierigkeiten und von Krisen, die das Leben der Gesellschaft erschüttern, begleitet. Diese Last wird von der Mehrheit der Bevölkerung als Verlust und nicht selten als qualvolles Opfer empfunden. Die Verlierer und die Opfer des Überganges sind Menschen, die an Krankheiten, Einsamkeit, Existenzunsicherheit, an Sorgen um ihren Lebensunterhalt, nicht selten an Rechtlosigkeit, an Obdachlosigkeit, Arbeitslosigkeit und an Ausgestoßensein leiden. Trotz den wirtschaftlichen und sonstigen Argumenten, wonach die materielle Basis, der bis zum Ende der 80er Jahre dauernden sozialen Sicherheit, größtenteils lediglich aus Auslandskrediten gelegt werden konnte und in vieler Hinsicht diese Sicherheit sich als nur scheinbar erwiesen hat, ist deren Abbau besorgniserregend.

14. Zu den schwerwiegenden Problemen Ungarns gehört die wachsende Armut, die sich in der raschen Zunahme der Zahl der Notleidenden zeigt. Immer mehr Menschen müssen eine angemessene Wohnung, Bekleidung, Nahrung und andere Bedingungen, die für ein menschenwürdiges Leben notwendig sind, entbehren. Der Prozeß der Verarmung beschleunigt sich: wie es bereits in einer Untersuchung der Weltbank festgestellt wurde war 1989 5 Prozent der Gesamtbevölkerung arm, bis 1993 hat sich aber diese Zahl verfünffacht. Nach Angaben des Zentralamtes für Statistik lebten in den 80er Jahren eine Million Menschen unter dem Existenzminimum, 1992 lag diese Zahl schon bei zwei Millionen, 1995 waren es annähernd 3,5 Millionen.

15. Die bereits im Einparteiensystem entstandenen grundlegenden sozialen Spannungen ließen nicht nach, im Gegenteil, sie verstärkten sich noch. Jene Entwicklungen, die zu einer schweren gesellschaftlichen Ungleichheit geführt haben, konnten nicht angehalten werden, während des Übergangs in die Marktwirtschaft wurden sie sogar immer ausschlaggebender und nahmen immer neue Formen an, wodurch die Kluft zwischen einer rasch und unmäßig reich gewordenen schmalen Schicht und der mit finanziellen Sorgen kämpfenden Mehrheit des Volkes immer tiefer wurde. Die weltweit beobachtbare Tendenz gilt jetzt auch in Ungarn: die Reichen werden immer reicher, die Armen immer ärmer. Der Unterschied im Lebensniveau der Reichen und der Armen war 1995 bereits größer als im Durchschnitt der westeuropäischen Länder, obwohl er immer noch der kleinste in Osteuropa war.

16. Eine besonders kritische Situation ist in dieser Übergangszeit dadurch entstanden, daß die Reform der sozialen Versorgungsnetze und der Sozialversicherung gleichzeitig mit einem wirtschaftlichen Rückschlag und mit der wesentlichen Verringerung der zu verteilenden Mittel einhergeht. Die Wirksamkeit des vor der Wende noch existierenden sozialen Netzes hat nachgelaßen. Das neue, den veränderten sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen entsprechende Versorgungsnetz funktioniert aber nur teilweise, in vieler Hinsicht ist es nicht einmal ausgebaut.

Innerhalb der hier aufgeworfenen Probleme ergibt sich eine besondere Schwierigkeit daraus, daß die Sozialhilfe bzw. die Versorgung der Langzeitarbeitslosen, und der Sozialhilfeempfänger nur ansatzweise gelöst ist.

17. Die Reform des Staatshaushaltes ist, wie das auch die Praxis der reicheren west-europäischen Ländern zeigt, unvermeidbar. Bei uns ist die Grenze zwischen der Minderung der Sozialausgaben und der strukturellen Veränderungen verschwommen. Die erstere wird selten von durchdachten Strukturreformen begleitet, oder aber werden diese verzögert. Die Auswirkungen der Einschränkungen sind allerdings sofort zu spüren, die Lebensbedingungen der Menschen werden schwieriger, ohne daß es deutlich zu sehen wäre, was das eigentliche Ziel des gebrachten Opfers ist.

18. Während der Systemveränderung gerieten einige sozialen Gruppen in eine mehrfach nachteilige Situation.

Der Hauptgrund der Verarmung ist in der zunehmenden Arbeitslosigkeit zu suchen. Dem westeuropäischen Durchschnitt ähnlich ist 10 Prozent der aktiven Bevölkerung arbeitslos, wenn auch die Schätzungen Unterschiede aufweisen. Mit dem Übergang zur Marktwirtschaft, mit einer rationaleren Organisation der Arbeitsplätze und der Produktion wurde die Praxis der scheinbaren Vollbeschäftigung (die Arbeitslosigkeit innerhalb des Arbeitsplatzes) beendet. Eine Konsequenz der Modernisierung besteht darin, daß viele Arbeitsplätze abgeschafft wurden, andere wurden so verändert, daß sie schon einer höheren Qualifikation bedürfen, zu der viele unfähig sind. Es ist aber unannehmbar diese Probleme lediglich als eine wirtschaftliche Frage zu behandeln.

Ganz besonders die Kinder sind in eine ungeschützte Lage geraten. 45 Prozent der jungen Menschen (jünger als 19 Jahre) lebten im Jahr 1994 in Haushalten, in denen das Pro-Kopf-Einkommen unter dem Existenzminimum lag. Das Risiko unter die Armutsgrenze zu fallen wächst mit der Anzahl der nichterwerbstätigen Kinder. Mit der Verschlechterung der wirtschaftlichen und der sozialen Situation, aber auch zahlreichen Regierungsbeschlüssen zufolge, die besonders die Familien mit Kinder belasten, haben sich die zur Verarmung führenden Konsequenzen des Kinder-haben-wollens verstärkt. Jene Praxis, wonach die Annahme mehrerer Kinder einen besonderen Heldenmut fordert und zwangsläufig zur Verarmung führt, kann nicht akzeptiert werden. Der Realwert des Kindergeldes verringerte sich wesentlich in den letzten Jahren, gleichzeitig wurden viele Vergünstigungen für Kinder abgeschafft.

Eine der solidsten Grundlagen für die Zukunft eines Landes bedeuten die Familien, die bereit sind, Kinder nicht nur zur Welt zu bringen, sondern sie auch großzuziehen. Die gute Atmosphäre der Familie sichert nicht nur eine glückliche Kindheit und damit das schönste Geschenk, das man einem Kind geben kann, sondern sie bedeutet auch die beste Voraussetzung zur Erziehung wertvoller und guter Staatsbürger für die Gesellschaft.

Die Schwangerschaftsunterbrechung wird größtenteils mit sozialen Begründungen in Anspruch genommen. Die schwere, für viele verzweifelte soziale Lage ist mitverantwortlich dafür, daß 1995 die Zahl der Abtreibungen bei 77.000 lag. Sie nahm in erster Linie unter den 20-29jährigen Frauen mit drei oder mehr Kindern zu, was offensichtlich die Folge der seit Frühling 1995 geltenden Maßnahmen ist, die viele sozialpolitische Begünstigungen so abschafften, daß die Gesellschaft keine Möglichkeit hatte, sich auf die neue Situation vorzubereiten. Das alles erfolgte, obwohl die Eltern das subjektive Recht haben eine erhöhte moralische, finanzielle und soziale Unterstützung zu beanspruchen, damit die Chancengleichheit für alle geborenen und noch zur Welt kommenden Kinder gesichert wird.

In den letzten Jahren haben sich die Einkommensverhältnisse der Rentner wesentlich verschlechtert. Der Realwert der Rente schrumpft in noch größerem Maße als der des Gehaltes. Der Realwert einer Rente sank um 23 Prozent in den vergangenen 5 Jahren. Die Inflation, insbesondere die Preiserhöhung der Medikamente belastet am meisten die Alten und die Kranken. Wir können über die schmerzhafte Tatsache nicht hinwegsehen, daß diejenigen Generationen, die den Krieg und die danach kommenden Jahre miterlebten, die jahrzehntelang anständig gearbeitet haben, jetzt, in der letzten Phase ihres Lebens mit immer größeren finanziellen Problemen konfrontiert werden. Neben der Last des Altwerdens müssen sie sich mit der Verlassenheit, mit dem Bewußtsein der Aussichtslosigkeit, und mit dem Gefühl, daß sie überflüssig sind, auseinandersetzen. Sie haben das Gefühl - und dieses wird oft auch von den Medien suggeriert -, daß sie den anderen nur zur Last fallen. Vielen wird das Leben nicht nur erbittert, sondern auch verkürzt, weil sie unfähig sind, sich selbst finanziell zu versorgen. Die Zahl der Rentner nähert sich an die 3 Millionen, und diese Zahl wird in den kommenden Jahren noch kontinuierlich weiter steigen. Die Sorgen wachsen auch dadurch, dass in der Bevölkerung der Anteil der Alten zunimmt, was für die Gesellschaft eine immer grössere finanzielle Last bedeutet.

Unsere Politik mit den Minderheiten wird auch im internationalen Vergleich anerkannt. Trotzdem dürfen wir nicht verschweigen, daß die Chancen der Roma-Bevölkerung für ein menschenwürdiges Leben um einige Größenordnungen kleiner sind, als die von anderen Gruppen der Gesellschaft. Als Veranschaulichung wollen wir eine einzige Angabe aus dem jahr 1995 nennen. Der Anteil der Arbeitslosen unter der nicht Roma-Bevölkerung liegt bei 10,6 Prozent, unter der Roma-Bevölkerung bei 45,5 Prozent. Die Gesellschaft soll in der Zukunft den Problemen der Minderheiten größere Aufmerksamkeit schenken. Der Anwesenheit der Flüchtlingen und der Asylbewerber wird heutzutage noch keine besondere Bedeutung beigemessen, obwohl ihre Zahl wahrscheinlichen zunehmen wird und man wird sich früher oder später mit dieser Frage auseinandersetzen müssen.

Die Zahl der Obdachlosen und der Ausmaß der damit entstehenden Aufgaben nimmt dramatisch zu. Zur Zeit leben etwa 30-40.000 Menschen ohne einer angemessenen Behausung. Wir verfügen allerdings zunächst nicht einmal über genaue Daten.

Die Grösse und der gesundheitliche Zustand der Bevölkerung

19. Die erstmals 1981 beobachtete Abnahme der Bevölkerung hält weiter an. Die Bevölkerungszahl sinkt seit 15 Jahren mit steigender Geschwindigkeit, sie sank in dieser Zeit insgesamt fast um eine halbe Million. Seit 1990 zählt das Land 160.000 Menschen weniger. Der Geburtenanteil war 1995 kaum 1.1 Prozent, und die Sterberate ist dem Vorjahr gegenüber kaum kleiner geworden. Die Erhöhung des Durchschnittsalters kam 1982 zu einem Ende, und nimmt seitdem ab. Auch das bei der Geburt erwartbare Alter nimmt ab, besonders bei Männern (heute ist es 64,8 Jahre, in Österreich aber 72,9 Jahre). Im europäischen Vergleich steht Ungarn auch in dieser Hinsicht auf dem letzten Platz. Die Sterblichkeitsrate der erwachsenen Männer liegt so hoch wie vor 60 Jahren. Hinsichtlich der Sterblichkeitsrate folgen Ungarn - in Europa - nur Russland, andere Nachfolgestaaten der Sowjetunion und Rumänien.

Diese tragischen Verhältnisse werden durch die fortlaufenden Störungen der Sozialversicherung, durch die Erhöhung der Rentenaltersgrenze auf die Höhe der Lebenserwartung, und durch die Verschlechterung der medizinischen Versorgung weiter verschlschlechtert. Für die Abnahme der Bevölkerungszahl sind die ununterbrochen andauernde Abnahme der Zahl der Lebendgeburten, die hohe Sterblichkeitsrate der älteren Jahrgänge und die Zunahme der Sterblichkeit unter den Menschen in mittleren Jahren verantwortlich. Die Verschlechterung der Bevölkerungsentwicklung droht in diesen Tagen wahrlich zu eine nationale Katastrophe zu werden.

20. Der Gesundheitszustand der Bevölkerung verschlechtert sich in einem alarmierenden Ausmaß, teils wegen äußerer Bedingungen, teils wegen unserer ungesunden, nicht selten zwangsläufig selbstausbeutenden oder sogar selbstzerstörerischen Lebensweise. Unter den psychiatrisch Behandelten ist in den 90er Jahren die Zahl der Menschen mit depressiven Krankheiten am stärksten gestiegen ist. Die Zahl der Herz- und Kreislauf-Erkrankungen und jener der Krebserkrankungen ist in Ungarn sehr groß. Die Tuberkolose hat sich weltweit erneut gemeldet, sie verbreitet sich aber in besonders großem Maße in Ungarn. Die Gründe sind bekannt: ungesunde, mangelhafte Ernährung, schlechte hygienische Verhältnisse und der völlige oder hochgradige Mangel einer Körperkultur. Viele richten ihre Gesundheit durch Rauchen und Alkohol zugrunde. Die Zahl der Alkoholkranken hat sich in den 90er Jahren verdoppelt: 10-12 Prozent der erwachsenen Bevölkerung (etwa 800.000 Menschen) sind als Alkoholiker einzustufen. Auch der Drogenkonsum verbreitet sich immer mehr, in erster Linie unter den Jugendlichen. Eine andauernde und besorgniserregende Erscheinung ist die hohe Selbstmordhäufigkeit, ein Anzeichen der Verschlechterung der seelischen Gesundheit. In dieser Hinsicht stand Ungarn Anfang der 80er Jahre im internationalen Vergleich (mit 0,45 Prozent) noch immer an der schlechtesten Stelle. Seit der zweiten Hälfte der 80er Jahre nahm die Zahl der Selbstmorde ab (1995 war es nur 0,343 Prozent), dennoch bleibt die Selbstmordrate Ungarns die höchste auf der ganzen Welt.

Es gibt in Ungarn keine mit Finanzmitteln adäquat unterstützte Bevölkerungspolitik. Es fehlt ein umsichtiges familienorientiertes Regierungskonzept, das mit der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik im Einklang stehen würde. Es fehlt sogar ein Zukunftsbild, das dazu die Grundlage geben würde.

Die Verschlechterung der öffentlichen Sicherheit

21. Der auffallendste und bedauernswerteste Hinweis darauf, daß die öffentliche Moral sich verschlechtert, ist die umfassende Verschlechterung der öffentlichen Sicherheit: Diese Tatsache wird dadurch noch besorgniserregender, daß in den vergangenen sechs Jahren auch die Schwere und der Gewaltcharakter der Straftaten zugenommen hat, und zwar in einem sich beschleunigendem Tempo. Die Zahl der bekanntgewordenen Straftaten lag im Jahre 1985 bei 166.000, im Jahre 1989 bei 225.000 und im Jahre 1995 bei 502.000, d.h. sie hat sich in den letzten 10 Jahren verdreifacht und in den letzten 5 Jahren verdoppelt. Der Drogenkonsum und die ihn begleitende Kriminalität verbreiten sich immer schneller. Eine massenhafte Prostitution, die immer mehr herausfordernd und protzig geworden ist, droht allmählich das Land um seinen guten Ruf zu bringen. Die Institutionen zur Aufrecherhaltung der öffentlichen Ordnung sind trotz all ihren Bemühungen ihren Aufgaben nicht gewachsen, schon deswegen nicht, weil die Wiederherstellung der gesunkenen gesellschaftlichen Moral und des zerfallenen Wertsystems keine nur polizeiliche Aufgaben sind.

Die meisten Bürger, die die Gesetze respektieren, müssen ein immer stärker werdendes Gefühl der Bedrohtheit ertragen, da sie die körperliche und materielle Sicherheit ihrer eigenen Person und ihrer Familienmitglieder nicht gewahrt wissen können. Die Atmosphäre der Angst belastet fortlaufend unser aller Allgemeinbefinden. Unter dem Einfluß des Bedrohtheitsgefühls verstecken wir uns hinter Schloß und Riegel. Wir gewöhnen uns daran, daß wir erst nach Überwindung unserer Angst auf die Straße hinauszugehen wagen. Das ist aber keine Lösung. Das führt nur zum weiteren Zerfall der Gemeinschaft.

In ihrem jetzigen Zustand sind die Gefängnisse nicht in der Lage die Gefängnisinsassen auf eine Lebenssituation vorzubereiten, die nach Absitzen ihrer Strafzeit für die Gefangenen bzw. für die Gesellschaft wünschenswert wäre. Sofern wir unsere Mitmenschen aus der Gesellschaft lediglich ausschliessen, entziehen wir ihnen leider meistens jede Chance zu einem mehr menschenwürdigen Leben.

22. Die Korruption, die die verschiedensten Bereiche des wirtschaftlichen, politischen und sogar des gesellschaftlichen Lebens durchdringt bedeutet ein großes Hindernis für die Zurückdrängung der Kriminalität, für die Minderung der gesellschaftlichen Ungleichheit und für die Förderung der Unternehmen. Die Mißbräuche sind oft nicht zu erkennen, da sie in mehrfach versteckter Form geschehen. Es ist aber nicht selten zu beobachten, daß sie auf den mittleren und oberen Ebenen ungestraft praktiziert werden können: als z.B. bei Vertragsabschlüssen, bei der Kreditgewährung, bei der Verteilung von öffentlichen Mitteln die Verantwortlichen durch finanzielle oder andere Begünstigungen beeinflußt werden. Solange keine ausreichend wirksamen Maßnahmen dagegen getroffen werden, können sich keine gerechten gesellschaftlichen Verhältnisse entwickeln.

B. Deutungen und Empfehlungen

Engagement für die Armen

23. Dem Beispiel ihres Gründers folgend soll sich die Kirche mit besonderer Liebe um die Armen, die Entmachteten, die Unterdrückten kümmern. Das ist eine der wichtigsten Aussagen der Katholischen Soziallehre. Sie ist in den vergangenen hundert Jahren immer entschiedener und immer dringender zu einer Verpflichtung geworden. ?So muß doch der Staat beim Rechtsschutze zugunsten der Privaten eine ganz besondere Fürsorge für die niedere, besitzlose Masse sich angelegen sein lassen. Die Wohlhabenden sind nämlich nicht in dem Maße auf den öffentlichen Schutz angewiesen, sie haben selbst die Hilfe eher zur Hand; dagegen hängen die Besitzlosen, ohne eigenen Boden unter den Füßen, fast ganz von der Fürsorge des Staates ab.? - sagte Papst Leo XIII. (RN 29). Die Kirche erhebt ihr Wort also an erster Stelle für jene, die ihre eigenen Interessen und Bedürfnisse nicht artikulieren und nicht verteidigen können.

Auch Papst Johannes Paul II. hebt die ?Option und vorrangige Liebe für die Armen? hervor. ?Heute muß angesichts der weltweiten Bedeutung, die die soziale Frage erlangt hat, diese vorrangige Liebe mit den von ihr inspirierten Entscheidungen die unzähligen Scharen von Hungernden, Bettlern, Obdachlosen, Menschen ohne medizinische Hilfe und vor allem ohne Hoffnung auf eine bessere Zukunft umfassen: ... an ihnen vorbeizusehen, würde bedeuten, daß wir dem » reichen Prasser« gleichen, der so tat, als kenne er den Bettler Lazarus nicht, » der vor seiner Tür lag« ?. (SRS 42).

?Die Kirche ist sich heute mehr den je bewußt, daß ihre soziale Botschaft mehr im Zeugnis der Werke als in ihrer inneren Folgerichtigkeit und Logik Glaubwürdigkeit finden wird. Auch aus diesem Bewußtsein stammt ihre vorrangige Option für die Armen, die nie andere Gruppen ausschließt oder diskriminiert. Es handelt sich um eine Option, die nicht nur für die materielle Armut gilt, da bekanntlich besonders in der modernen Gesellschaft viele Formen nicht bloß wirtschaftlicher, sondern auch kultureller und religiöser Armut anzutreffen sind. Ihre Liebe zu den Armen, die entscheidend ist und zu ihrer festen Tradition gehört, läßt die Kirche sich der Welt zuwenden, in der trotz des technisch-wirtschaftlichen Fortschritts die Armut gigantische Formen anzunehmen droht.? (CA 57).

Die drei Grundpfeiler der Soziallehre der Kirche

24. Drei Grundpositionen sind von der Soziallehre der Kirche besonders hervorzuheben. Sie müssen bei jeder gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Reformmaßnahme vor Augen gehalten werden, wenn diese ihr Ziel, das Allgemeinwohl, erreichen wollen. Diese sind: an erster Stelle die Würde der menschlichen Person, das Prinzip der Solidarität und das Prinzip der Subsidiarität.

Der Ausgangspunkt der katholischen Soziallehre ist die menschliche Person, die zugleich Individuum und gesellschaftliches Wesen ist. Für die Person sind beide Bestandteile unentbehrlich. ?Die Würde des Menschen wurzelt in seiner Erschaffung nach Gottes Bild und Ähnlichkeit, sie kommt in seiner Berufung zur Seligkeit Gottes zur Vollendung.? (KEK 1700). ?Wurzelgrund nämlich, Träger und Ziel aller gesellschaftlichen Institutionen ist und muß auch sein die menschliche Person.? (GS 25). Niemand hat das Recht, die Person für das angebliche Wohl der Gesellschaft aufzuopfern, aber auch umgekehrt gilt: auch das Individuum wird verstümmelt, wenn es sein Selbstinteresse und sein soziales Sein voneinander isoliert behandelt.

Die Achtung der Person, die menschliche Würde gebührt jedem Menschen, wie hilflos er auch sein mag, unabhängig davon, ob diese Hilflosigkeit die Folge des Mangels an körperlicher Kraft, der politischen oder wirtschaftlichen Machtlosigkeit, der Obdachlosigkeit oder eben moralischer Schwächen und Sünde der Person ist. Die Kirche tritt für die Ausgestoßenen, für die sozial Entwurzelten ein, wendet sich gegen jede Diskriminierung, und tritt für die Förderung der Chancengleichheit ein. Sie hält es für sinnlos und schädlich, wenn zwischen ?würdigen? und ?unwürdigen? Armen, zwischen ?aus eigenem Fehler? und ?unschuldig? an den Rand der Gesellschaft geratenen Menschen unterschieden wird. Es muß freilich verhindert werden, daß einige auf Kosten von anderen schmarotzen, aber in erster Linie so, daß alle zu Ehrlichkeit und Verantwortung erzogen werden.

25. Das zweite Grundprinzip der Soziallehre ist die Solidarität. Der Mensch kann sich mit Hilfe der Gesellschaft entfalten. Er ist auf andere angewiesen, zugleich ist er verpflichtet zum Aufbau der Gesellschaft beizutragen, das Leben anderer helfend zu begleiten. Das Prinzip der Solidarität setzt eine Ordnung der Gesellschaft und geregelte Organisationen voraus, und es verlangt die gegenseitige Hilfe der Menschen, die Festlegung und die dauernde Verbesserung der Formen des Zusammenlebens. Solidarität bedeutet Gemeinschaftsbildung, die Weiterentwicklung der Gesellschaft, die Erhöhung der Funktionsfähigkeit ihrer Organisation, Verantwortung für konkrete Personen, für Probleme und Verfahrensweisen. Das Prinzip der Solidarität umfaßt aber auch mehr allgemeingültige gesellschaftliche und ethische Normen: den Dienst am Gemeinwohl und den Einsatz für die Gerechtigkeit.

Die Forderung der Solidarität in der christlichen Soziallehre ist ein Ausdruck der Liebe. Auf die konkrete Wirklichkeit unserer Zeit angewandt wird damit der Wunsch ausgesprochen, daß jeder, der - aus welchem Grund auch immer - an den Rand der Gesellschaft geraten ist, Hilfe zum menschenwürdigen Leben bekommen soll.

26. Der dritte Grundpfeiler der christlichen Soziallehre ist das Prinzip der Subsidiarität: ?wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen; zugleich ist es überaus nachteilig und verwirrt die ganze Gesellschaftsordnung. Jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ja ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär; sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen.? (QA 79). Daraus folgt, daß ?bei allen daher der Wille zur Mitwirkung an gemeinsamen Werken geweckt werden muß.? (GS 31).

27. Die Prinzipien der Solidarität und der Subsidiarität müssen in jeder gesunden Gesellschaft verwirklicht werden. Es ist in Ungarn noch viel zu tun, damit diese Prinzipien auch hier durchgesetzt werden. Dieses erfolgt nicht automatisch mit der Umstrukturierung des wirtschaftlichen oder des politischen Lebens. Wir müssen dazu unsere eigene Denk- und Lebensweise grundlegend verändern. Eine neue Auffassung vom Leben soll zur Geltung gebracht werden, die initiativ, fleißig und sparsam ist, die die Mitmenschen respektiert, und mit ihnen die Gemeinschaft akzeptiert.

Der Parteistaat mit seiner übermässigen Macht hat in den letzten Jahrzehnten paternalistisch für seine Untertanen gesorgt und diese dabei von der Möglichkeit des unabhängigen Denkens, der Zivilinitiative und des freien und verantwortungsvollen Handelns beraubt. Aus dem Prinzip der Subsidiarität folgt, daß die Notleidenden Hilfe nicht nur von Anderen erwarten, sondern auch sie selber ihr Bestes tun sollen, um vorwärtszukommen. Das kann aber keineswegs bedeuten, daß der Staat diejenigen auf sich selbst angewiesen sein läßt, die - aus irgendeinem Grund - unfähig sind, für sich zu sorgen. Notfalls soll, unter Beachtung der sozialen Aspekte, in die Wirtschaft eingegriffen werden, besonders dann, wenn die Institutionen, die sowohl dem Allgemeinwohl als auch den einzelnen Personen dienen sollen, auf Privatinitiativen nicht entstehen. Die umfassende Rechtsordnung soll für die Hilfsbedürftigen sorgen. Man braucht Gesetze, die verhindern, daß solche Menschen (lokale Minderheiten, Behinderte, Invaliden) auf irgendeinem Gebiet des wirtschaftlichen, politischen, kulturellen und alltäglichen Lebens in das gesellschaftliche Abseits geraten.

Mit der Erweiterung der Marktmechanismen soll die Gesellschafts- und Sozialpolitik auch die Werte der gesellschaftlichen Gerechtigkeit und der Fairneß vor Augen haben, auf eine Weise daß diese im Einklang mit den Anforderungen der Marktwirtschaft bzw. mit den langfristigen Interessen der ganzen Gesellschaft stehen. So entsteht dann die soziale Marktwirtschaft. Die Umwandlung ist schwer und langsam, der Prozeß kann und soll aber mit adäquaten Maßnahmen angespornt und beschleunigt werden.

Verantwortungsübernahme und Initiative

28. ?(Aber) unmöglich kann die Kirche des von Gott ihr übertragenen Amtes sich begeben, ihre Autorität geltend zu machen, nicht zwar in Fragen technischer Art, wofür sie weder über die geeigneten Mittel verfügt, noch eine Sendung erhalten hat, wohl aber in allem, was auf das Sittengesetz Bezug hat.? (QA 41). Mit dieser Feststellung vor Augen skizzieren wir einige Empfehlungen.

29. Die Regierung, die Selbstverwaltungen der Gemeinden, die Zivilorganisationen, die Gewerkschaften als Interessenvertretungen der Arbeitnehmer, und die Arbeitgeber sollten ein aufeinander abgestimmtes und konsequentes Programm gegen die Verarmung und gegen die gesetzwidrige Vermögensbildung erarbeiten.

30. Wir brauchen eine moderne soziale Marktwirtschaft, die die Wohlfahrtsprinzipien und rationale Anforderungen der Wirtschaft kombiniert. Deren Grundbedingung ist aber, daß die Wirtschaftpolitik mit der Sozialpolitik zusammen ausgearbeitet und entwickelt wird, damit die Wirtschaftspolitik nicht alleinbestimmend werden kann. Die Wirtschaftsentwicklung und das Reichtum dürfen nicht Selbstzweck werden, sie müssen dem Menschen, der ganzen Gesellschaft dienen. Die ganze Bevölkerung soll als das gemeinsame Gut und als der Hauptwert der Gesellschaft angesehen werden. Am Gemeinwohl ist auch das Kind, die Familie, der Greis, der Schwerbehinderte beteiligt. Jedes Mitglied der Gesellschaft muß sich, im gerechten Anteil, an ihrem Schutz und Pflege und an der Deckung der damit entstandenen Kosten beteiligen. Jene Entwicklung, wonach die Lebenschancen der Gruppen, die ihre wirtschaftliche und gesellschaftliche Nachteile aus eigener Kraft nicht abarbeiten können sich ständig verringern, soll, soweit es geht, aufgehalten werden, damit diese Gruppen ein menschenwürdigeres Leben beginnen und sich in die Gesellschaft integrieren können.

31. Die Wirksamkeit der Institutionen der Sozialpolitik wird auch von vielen weiteren Faktoren wesentlich beeinflußt, besonders von dem System verschiedener Hilfsleistungen. Eine wichtige und dringende Aufgabe ist es daher unter anderem, die Entwicklung der Wohnungspolitik, der staatlichen Bildungs- und Beschäftigungspolitik, die Sozialversicherung und das System der freiwilligen ergänzenden Versicherung, bzw. die soziale Unterstützung miteinander und mit der Tätigkeit von gesellschaftlichen Selbsthilfegruppen und sozialen Bewegungen in Einklang zu bringen. Die Tätigkeit der freiwilligen Hilfsorganisationen soll unterstützt werden. Das System der staatlichen Unterstützungen soll überprüft werden, damit dieses niemanden demütigt, die menschliche Würde nicht beeinträchtigt, und damit es neben der konkreten Hilfe sich darum bemüht die Notleidenden auch im menschlichen und materiellen Sinn auf die Beine zu stellen. Den ärmsten muß zu einem minimalen, jedoch das Existenzminimum erreichenden Einkommen verholfen werden, und zwar so, daß es für die anderen Mitglieder der Gesellschaft keine unzumutbare Belastung darstellt. Während der Umstrukturierung der Wirtschaft und der Gesellschaft soll der Staat besonders darauf acht geben, diejenigen von der Verarmung und von dem Verlust ihres sozialen Statuses zu bewahren, die sich und ihre Familie aus ehrlicher Arbeit unterhalten.

32. Die Kirche stellt fest, daß jeder einzelne nicht nur die Verpflichtung zu gewissenhafter Arbeit, sondern ?auch das Recht auf Arbeit? (GS 67) hat. Es ist die Aufgabe der Gesellschaft und des Staates, ?die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, die in jedem Fall ein Übel ist, und, wenn sie große Ausmaße annimmt, zu einem echten sozialen Notstand werden kann.? (LE 81/18.1). Die Sorge der Abnahme der Arbeitslosigkeit ?obliegt dem Staat, das darf jedoch nicht darauf hinauslaufen, alle Zuständigkeiten der öffentlichen Gewalt vorzubehalten und auf sie zu häufen.? (LE 82/18.2). Dieser Kampf um die Schaffung von Arbeitsplätzen muß auch dann weitergeführt werden, wenn die staatlichen und unabhängigen Organisationen auf unzählige Hindernisse stoßen. Es sollen weiterhin auch die Arbeitgeber motiviert werden neue Arbeitsplätze zu schaffen.

33. Die Reform der Sozialversicherung ist unvermeidbar, sie ist aber so durchzuführen, daß sie keiner einzigen Schicht der Gesellschaft einen unzumutbaren Nachteil verursacht. Für die Zukunft soll ein mehrschichtiges System der Versicherungen und Renten ausgearbeitet werden, um damit die finanzielle Sicherheit der Mittelschichten und das Funktionieren des sozialen Netzes für die Armen zu garantieren.

34. Die Kirche hält die Familie für die wichtigste elementare Zelle der Gesellschaft. Die Institution der Familie spielt eine entscheidende Rolle in der Gesellschaft, da sie als grundlegende Zelle nicht nur eine wirtschaftliche Einheit darstellt, sie ist auch der wichtigste Ort der seelischen Entwicklung des Menschen und der Weitergabe der Kultur. Hier eignet sich das Kind die Werte an, mit Hilfe derer es ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft werden kann. ?Die Familie soll so leben, daß ihre Mitglieder lernen, sich um Junge und Alte, um Kranke, Behinderte und Arme zu kümmern. (...) Die Familie ist durch geeignete soziale Maßnahmen zu unterstützen und zu schützen. (...) Die Staatsgewalt hat es als ihre besondere Pflicht anzusehen » die wahre Eigenart von Ehe und Familie anzuerkennen, zu hüten und zu fördern, die öffentliche Sittlichkeit zu schützen und den häuslichen Wohlstand zu begünstigen« (GS 52,2).? (KEK 2208-2210).

35. Die Kirche setzte sich - wie überall in der Welt, so auch bei uns in Ungarn - zur Aufgabe, hilfsbereit, aber kritisch und mit den evangelischen Werten vor Augen, den im Lande ablaufenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen mit Aufmerksamkeit zu folgen, die Anomalien des politischen und wirtschaftlichen Lebens kritisch zu betrachten, und notfalls gegen jede Form der Diskriminierung und Ungerechtigkeit zu protestieren, um in erster Linie die Ärmsten, die Ausgestoßenen, die Verelendeten zu schützen. Zusätzlich dazu unternimmt sie alles um, sofern ihre Kräfte reichen, sich selbst an der Minderung der Schwierigkeiten und an der Linderung der Leiden der Betroffenen zu beteiligen.

36. Die Nächstenliebe fordert Opfer, die institutionelle und individuelle Beteiligung an den Schwierigkeiten des Anderen. Wir rufen all unsere Gläubigen, Priester, Kirchgemeinden und kirchliche Gemeinschaften, und alle Menschen guten Willens auf, um ihren Teil im Kampf gegen Unbeholfenheit, soziale Vereinsamung, Hilfsbedürftigkeit und Verelendung zu leisten. Sie sollen auf der Ebene, wo sie leben und arbeiten, soziale Programme erarbeiten und verwirklichen. Eine besonders große Verantwortung ruht auf denjenigen Christen, die sich auf nationaler oder auf regionaler Ebene am öffentlichen Leben oder an der Politik beteiligen.

Der barmherzige Samariter, der einem Notleidenden hilft ist ein Musterbild der selbstlosen und opferbereiten Nächstenliebe. Eine solche personbezogene Aufmerksamkeit ist aber nur geeignet um wenige Menschen zu retten. Heute sind wir jedoch mit einer so großen Zahl an Hilfsbedürftigen konfrontiert, und in Kontrast dazu ist die Zahl der Helfenden so gering, daß wir Wege finden müssen auch institutionelle, organisierte Formen der Nächstenliebe aufzubauen, die Interessen der Armen in der Gesellschaft zu vertreten, und soziale Programme zu erarbeiten und umzusetzen.

2. Das Wirtschaftsleben

37. Die erwähnten Schwierigkeiten und Sorgen knüpfen eng an das Wirtschaftsleben Ungarns an. Es ist also unumgänglich, auch darüber zu sprechen, denn die wirtschaftliche Situation bestimmt auf vielen weiteren Gebieten unsere Handlungsmöglichkeiten. Selbstverständlich ist es auch hier nicht unser Ziel, eine ausführliche Analyse der Wirtschaft zu geben. Wir wollen lediglich die Aufmerksamkeit auf jene Erscheinungen lenken, die unsere grundlegenden Werte unmittelbar oder mittelbar beeinflußen.

A. Situationsanalyse

Das Erbe der Vergangenheit und die weltwirtschaftliche Lage

38. Schon aus dem vorangehenden Kapitel wurde ersichtlich, daß die schädlichste und gefährlichste Konsequenz der wirtschaftlichen Veränderungen der letzten Jahre in der Zunahme der gesellschaftlichen Ungleichheit besteht. Breite Gesellschaftsschichten sind an die Grenze der Armut oder sogar darunter geraten. Es ist zu befürchten, daß in diesem Prozeß eine so große Kluft zwischen den Gesellschaftsschichten entsteht, daß diese die Verwirklichung der sozialen Marktwirtschaft auf lange Sicht behindert. Die Zunahme der gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten kann auch die Entwicklung der Wirtschaft hindern.

Auch die Ungleichheit zwischen den einzelnen Regionen, insbesondere zwischen den westlichen und östlichen Hälften Ungarns, sowie zwischen den Großstädten, insbesonders Budapest und den kleinen Dörfern haben sich dramatisch zugespitzt. Im östlichen Teil Ungarns ist z.B. die Arbeitslosenrate dreimal so hoch, wie in den westlichen Bezirken. In diesen wirtschaftlich zurückgebliebenen Gebieten konnten nicht einmal die zur Verfügung stehenden bescheidenen Mittel effektiv verwendet werden.

39. Viele neigen heutzutage dazu zu vergessen, was für schwere Lasten wir geerbt haben. Aus der vom Parteistaat gezeichneten Vergangenheit erinnern sie sich nur noch an die Existenzsicherheit und an die garantierten Arbeitsplätze. Obwohl die sogenanten ?sozialistischen Länder? Mittel- und Osteuropas nach anfänglichen, bescheidenen Fortschritten, in den vergangenen Jahrzehnten viel von ihrer relativ günstigen weltwirtschaftlichen Position verloren haben. Beispielsweise übertraf das Brutto-Nationalprodukt (GDP) der Länder des Mittelmeerraumes in 1973 lediglich um rund 25 Prozent das GDP der damaligen sozialistischen Länder, während diese Zahl heute bei über 200 Prozent liegt. Der Unterschied der Einkommensniveaus in Ungarn und in den westlichen Industrieländern wuchs von 1:2 auf 1:4. Ein ähnlicher Rückfall kann beobachtet werden, wenn man den Weg Ungarns mit dem Österreichs oder Finnlands vergleicht.

Der internationale Vergleich zeigt sehr anschaulich, daß es in der ungarischen Wirtschaft grundlegende Probleme gegeben hat. Die Unternehmen und Betriebe in der sozialistischen Planwirtschaft durchliefen eine von den wahren Marktverhältnissen entfremdete, verzerrte Entwicklung. Die sozialistischen Länder haben die Qualität und Effektivität außer Acht gelassen. Sie haben ausschliesslich quantitative Kriterien in den Vordergrund gesetzt und haben ihre woanders unverkäufliche Produkte gegenseitig auf den Märkten voneinander untergebracht. Wegen der kontinuierlichen Mangelwirtschaft nahmen diese Märkte alles auf, so daß die Unternehmen und Betriebe durch nichts zu Entwicklungsanstrengungen und zur wirtschaftlichen Effektivität gezwungen waren. Die betrieblichen Mittel und auch das geistige Kapital der Unternehmen haben sich im Zustand der ?kollektiven Verantwortungslosigkeit? entwertet. Nicht nur die Struktur der Wirtschaft hat sich verzerrt, sondern auch die Marktformen haben, als sich der Parteistaat im Jahre 1968 für Wirtschaftsreformen entschied, auf eine verzerrte Art, lediglich in der ?zweiten? und in der Schwarzwirtschaft einen Platz bekommen.

Der Grundgedanke der Diktatur des ungarischen Parteistaates bestand darin, daß sich die Bevölkerung als Gegenleistung für den relativen Wohlstand nicht in die Politik einmischen und die Macht der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei still ertragen soll. Nach der Ölpreisexplosion im Jahre 1973 hat die damalige Regierung Ungarns die Durchführung der notwendigen strukturellen Änderungen versäumt, so war die Wirtschaft nicht mehr imstande, in der sich fortwährend verschlechternden Situation, die Bedingungen des relativen Wohlstandes weiter zu sichern. Um ihre politische Macht zu sichern haben die führenden Politiker ausländische Kredite aufgenommen, die jedoch nicht für die Förderung der Wirtschaft, sondern für die Aufrechterhaltung der nicht effektiven Wirtschaftsstruktur und für die Wahrung des Lebensniveaus verwendet wurden. Die Schulden und die dazugehörigen Zinsen müssen jetzt zurückgezahlt werden.

40. Zusätzlich zu den Lasten der Vergangenheit entsteht auch daraus eine weitere Schwierigkeit, daß die gegenwärtigen Veränderungen in einem veränderten weltwirtschaftlichen Umfeld vor sich gehen. Das wirtschaftliche Wachstum ist auch in West-Europa zurückgegangen, die Gesellschaft ist alt geworden, sie kann das gewohnte Niveau der Wohlstandsleistungen nicht mehr aufrechterhalten. Ungarn schliesst sich somit einem Wirtschaftsraum mit einer kleinen Wachstumsrate an, von wo also das Land weniger Hilfe, jedoch einen härteren Wettbewerb erwarten kann, als jene Länder, die sich in den 80er Jahren der EG angeschlossen haben.

Diese Zusammenhänge sind unter der Bevölkerung sehr wenig bekannt. Heute haben wir nicht einmal darüber einen ausreichenden Überblick, was die Integration bedeutet und welche Konsequenzen sie für alle Schichten der ungarischen Bevölkerung hat. Es gibt keine ernstzunehmende Alternative für unseren Anschluss an die Europäische Union. Schwere Herausforderungen werden aber entstehen durch den voraussehbar stärkeren Wettkampf, auch den Platz unserer Landwirtschaft in dem überfüllten europäischen Agrarmarkt betreffend, und wegen dem Angleichungsdruck bei der Harmonisierung der Rechtsvorschriften.

Die gegenwärtige wirtschaftliche Situation

41. Das Ziel der Wende bestand im Ausbau der sozialen Marktwirtschaft. Dieses bedeutet soviel, daß die schädlichen Konsequenzen der Tätigkeit des Marktes bei jenen Gesellschaftsschichten, die nicht imstande sind, in dem auf dem Markt stattfindenden Wettbewerb teilzunehmen, (Kinder, alte Menschen, Behinderte, Arbeitslose, kinderreiche Familien) vom Staat korrigiert und ausgeglichen werden. Zahlreiche grundlegende Institutionen der sozialen Marktwirtschaft sind in den vergangenen Jahren tatsächlich errichtet worden. Die Umwandlung geht jedoch viel langsamer, und mit weit mehr schmerzvollen Nebenwirkungen als erwartet, vor sich.

Die Bewertung der gegenwärtigen wirtschaftlichen Situation ist auch in Kreisen von Fachleuten widersprüchlich. Wir alle erleben jedoch, daß die Veränderungen - wahrscheinlich zwangsläufig - einen grossen wirtschaftlichen Rückfall zur Folge hatten. In 1993 betrug das GDP nur 82 Prozent von dem des Jahres 1989. Seitdem ist es leicht angestiegen. In den vergangenen Jahren ist auch das Lebensniveau der Mehrheit der Bevölkerung gesunken. Der Realwert der Gehälter hat seit 1978 nie wieder den damaligen Spitzenwert erreicht; in 1993 betrug dieser Wert nur 77 Prozent des Niveaus vom Jahre 1978. Das Pro-Kopf Realeinkommen war im Jahre 1993 rund 89 Prozent von dem des Jahres 1989; in 1994 stieg das Realeinkommen leicht an, seit 1995 geht es jedoch wieder zurück.

42. Eine große Last der ungarischen Wirtschaft ist die Verschuldung des Staates. Die Auslandsschulden übertrafen Ende 1995 brutto 31 Milliarden USD, während die Nettoschulden 16,8 Milliarden USD betrugen. Die Wurzeln der Probleme reichen weit zurück. Die aufgenommenen Kredite wurden nicht wirksam verwendet, es folgten immer neue Kreditaufnahmen mit immer mehr ansteigenden Zinslasten. In 1993 sind auch die inländischen Staatsschulden besorgniserregend angestiegen. (Im Jahre 1990 betrugen sie HUF 1.412 Milliarden. Bis Ende 1994 stiegen sie auf HUF 3.755 Milliarden. Die Zinslasten betragen gegenwärtig 30 Prozent der Staatshaushaltsausgaben.)

43. Die Inflation liegt seit Jahren über 20 Prozent. Das hat nicht nur für die Wirtschaft schädliche Konsequenzen, sondern trifft fortlaufend die Lohn- und Gehaltsempfänger, die Rentner, die Familien mit Kindern. Die Inflation vergrössert die Ungleichheit in der Gesellschaft.

44. Eine positive Entwicklung besteht darin, daß nach überzeugend klingenden Daten auf der betrieblichen Ebene eine Strukturveränderung eingesetzt hat mit einem Ansteigen der Produktivität. Ein wichtiges Element hierbei ist das hineinströmende ausländische Kapital, das jedoch sichtlich von unterschiedlichen Motiven geleitet wird, die nicht unbedingt mit den Fernzielen der ungarischen Gesellschaft übereinstimmen. Die Bedeutung des ausländischen Kapitals ist in Ungarn, im ost-mitteleuropäischen Vergleich, besonders groß. Von den 200 größten ungarischen Unternehmen arbeiten rund 110 unter ausländischer Kontrolle.

Die Privatisierung

45. Der Prozess der Privatisierung ist ebenfalls voll von widersprüchlichen Elementen. Es war von vornherein vorgegeben, daß keine eindeutige und befriedigende Grundprinzipien für die Privatisierung formuliert werden konnten, da die Eigentumsverhältnisse sich in den Stürmen der Geschichte so unübersehbar und chaotisch verändert haben, daß die Wiederherstellung der alten Verhältnisse unmöglich war, obwohl viele - darunter auch politische Parteien - solche Illusionen hegten. Der Schadenersatz brachte wegen der Eigentümlichkeiten, unter denen es praktiziert wurde, wenig wahre Werte für die Betroffenen. Die große Mehrheit der sog. ?Schadenersatz-Scheine? kam letzten Endes nicht in den Besitz der ursprünglichen, gesetzlich zum Schadenersatz berechtigten Eigentümer. Vorteile hatten die Betriebsleitungen, die zum Eigentümer der Aktien wurden oder staatliche Institutionen und Behörden, die die Privatisierung abwickelten: die Bevölkerung bekam von den Prozessen so viel mit, daß dabei riesige, unkontrollierbare Vermögen entstanden sind. Die wirtschaftliche und politische Elite zeigt in ihrer Haltung und in ihrem Konsumverhalten wenig Solidarität mit den Armen. Der Motor der sozialen Marktwirtschaft wäre ein Unternehmer mit rationaler Wirtschaftsführung, der Investitionen und Innovationen anstrebt, jedoch seiner Verantwortung den Konsumenten, den Arbeitnehmern und der Umwelt gegenüber bewusst ist. Wir sehen jedoch wenig Zeichen einer solchen Haltung in Ungarn. Die wichtigsten Machtpositionen der ungarischen Wirtschaft befinden sich zum Teil in der Hand von Aktiengesellschaften (mit staatlicher Mehrheit und gemischten Eigentumsverhältnissen), zum Teil im Besitz von Geschäftsleuten des illegalen Schwarzmarktes. Ihnen gegenüber steht die große Anzahl von Kleinunternehmer, die mit hohen Steuern belastet um das Überleben kämpfen. Die stabile, wohlhabende Mittelschicht ist sehr schmal.

Die schwarze und die Schattenwirtschaft

46. Ein gefährlicher Nebeneffekt der wirtschaftlichen Umgestaltung besteht in der raschen Ausbreitung der Schwarzwirtschaft, wo nach gemässigten Schätzungen gegenwärtig bereits 25-30 Prozent der nationalen Bruttoproduktion hergestellt wird. Die Schwarzwirtschaft bedeutet eine große Gefahr für die Gesellschaft. Die Arbeit, die ohne Einzahlung der Steuer und Sozialversicherungsbeiträge sicherlich billiger geleistet wird, verdrängt allmählich jene ehrlichen Unternehmer, die in diesem Wettkampf in eine hoffnungslose Lage gebracht werden. Sie versuchen anschliessend entweder auf dem überfüllten Arbeitsmarkt eine Stelle zu finden oder aber beteiligen sich ebenfalls an der Schwarzwirtschaft.

Viele entledigen sich den öffentlichen Lasten. Die Lasten der ehrlichen Steuerzahler steigen deshalb allmählich auf ein unerträgliches Ausmaß an. Es entsteht ein Teufelskreis: immer mehr entziehen sich den allgemeinen Steuerpflichten, was dazu führt, daß der immer enger werdende Kreis der aufrichtigen Steuerzahler noch mehr zahlen muß. Das mindert wiederum die Chancen des Wirtschaftswachstums und trägt indirekt zur weiteren Ausbreitung der Schwarzwirtschaft bei. Wie überall in der Welt, hängt auch bei uns die Schwarzwirtschaft eng mit der organisierten Kriminalität und der Korruption zusammen. Über die direkten, konkreten finanziellen Schäden hinaus bedeutet also die Schwarzwirtschaft auch weitere Gefahren für die Gesellschaft.

Die Schattenwirtschaft bereitet ebenfalls ernste Gefahren für die ehrlichen Beziehungen auf dem Markt. Die Lücken der rechtlichen Regelungen ermöglichen, daß gewisse Handlungsweisen der Wirtschaft zwar formal nicht rechtswidrig sind, anderen nichtsdestoweniger Schaden zufügen können und auch die Einnahmen des Staatshaushaltes verkürzen.

Die Landwirtschaft

47. Ungarn ist seinen Naturgegebenheiten nach ein hervorragendes landwirtschaftliches Gebiet. Die Wende hat für die Bauern zunächst große Hoffnungen, doch bald Enttäuschungen gebracht. Die Halblösung der Handhabe des Schadenersatzes verursachte eine mehrjährige, bis heute andauernde Unsicherheit. Die Vermögensstruktur hat sich nach der Privatisierung bis zum Unendlichen verkleinert. Die unumgängliche Umstrukturierung der früher erzwungenen Produktionsgenossenschaften, die Privatisierung, sowie die Tatsache, daß der größte Teil der Lebensmittelindustrie und des Handels in ausländische Hand gegeben wurde, weiterhin der Kapitalmangel, die hohen Zinsen der landwirtschaftlichen Kredite, der Abbau der Subventionen und der Mangel des Schutzes des ungarischen Marktes haben die Agrarwirtschaft auf einen Tiefpunkt gebracht. Die Investitionen sind zurückgegangen, der Viehbestand erreicht nicht einmal das Niveau des Jahres 1938, die landwirtschaftliche Produktion ist stark zurückgegangen. Die Schwierigkeiten des Transformationsprozesses - die Arbeitslosigkeit, der Mangel der Förderungsmittel - treffen insbesondere die Kleinstgemeinden, vor allem in den stagnierenden Regionen.

48. Was die Zukunft betrifft, wird wahrscheinlich die Landwirtschaft die größten Schwierigkeiten haben, weil der Anschluß an die Europäische Union die landwirtschaftliche Produktion mit Sicherheit begrenzen wird, zumal Ungarn ein harter Konkurrent der europäischen Produzenten werden könnte. Es muß damit gerechnet werden, daß der Anteil der in verschiedenen Zweigen und Gebieten der Landwirtschaft tätigen Bevölkerungsgruppen stark abnehmen wird. Der Anteil der Arbeitslosigkeit in der Landwirtschaft ist bereits heute bedeutend. Die neue Situation die sich aus dem Beitritt in die Europäischen Union ergeben wird fordert für die Landwirtschaft (und für die ganze Wirtschaft) eine positive und weitsichtige Strategie.

Die natürliche Umwelt

49. Der wirtschaftliche Anstieg hat die Umwelt weltweit verändert, und die Natur immer stärker beschädigt. Die Vorherrschaft der Konsumorientierung hat die Welt zur Erschöpfung ihrer Ressourcen nähergebracht und bedroht ernstlich die lebenswichtigen natürlichen Subsysteme. Die totalitären politischen Regime Zentral- und Ost-Europas haben sich noch weniger um den Schutz der Umwelt als die westlichen Demokratien gekümmert. Demzufolge ist in Ungarn die Bedrohung der Umwelt grösser geworden, als im Westen. Der Zustand der natürlichen Umwelt hat sich zwar an manchen Gebieten seit 1990 verbessert, der Verschmutzungsprozess hat sich an den am stärksten verschmutzten Regionen verlangsamt - insbesondere weil jene Betriebe der Schwerindustrie die die Umwelt stark beschädigt haben und gleichzeitig auch unrentabel waren zum Stillstand gebracht wurden -, dennoch müssten zum Schutze der Natur und zur Erhaltung der Naturschätze noch grosse Aufgaben gelöst werden. Diese Probleme werden auch dadurch erhöht, daß die Mehrheit der Bevölkerung sich der Wichtigkeit des Naturschutzes nicht bewußt ist. Es ist eine bedauernswerte Tatsache, dass die Aufmerksamkeit und Energie der Teilnehmer der politischen und der wirtschaftlichen Sphäre gleichfalls von der Lösung kurzsichtiger wirtschaftlicher Probleme gefesselt wird. Ein positives Zeichen ist, daß die Politiker zumindest in Verbaläusserungen sich der Wichtigkeit dieser Probleme bewußt sind. Die langfristige Denkweise fehlt jedoch in den meistens Fällen, auch wenn es um grundlegende, existentielle Interessen geht.

50. Die Situation der natürlichen Umwelt in Ungarn ist widersprüchlich. An vielen Stellen gibt es die Gesundheit ernstlich schädigende Verschmutzungen (die Umgebung von Industriegebieten, illegale Mülldeponien, Großstädte, mit Chemikalien überlastete, unkontrolliert behandelte landwirtschaftliche Gebiete, Kasernen, etc.). Besonders ernste Schäden können in der Umgebung von Unternehmen mit Grössenwahn festgestellt werden. Es ist jedoch erfreulich, daß viele Gebiete ihr ursprüngliches Gesicht beibehalten haben. Wo man wegen Geldmangel nicht imstande war industrielle Methoden in der landwirtschaftlichen Produktion einzuführen, dort konnten die der natürlichen nahe stehenden Lebensstrukturen erhalten bleiben. Innerhalb kurzer Zeit konnten in diesen Regionen fünf Nationalparks errichtet werden, und weitere Landschaften konnten unter Schutz gestellt werden.

Ein wesentliches Problem des Naturschutzes besteht darin, daß wenig Geld für die Behebung der verursachten Schäden aufgebracht und noch weniger für die Einführung umweltschützender Maßnahmen ausgegeben wird. Hier muß auf die Gefahr aufmerksam gemacht werden, daß die entwickelten Industrieländer sich bemühen, ihre veralteten Technologien und ihren Müll nach Ungarn zu exportieren. Dazu kommt noch die Tatsache, daß auf die Privatisierung vielerorts eine die Natur ausbeutende Wirtschaftsweise folgt.

B. Deutungen und Empfehlungen

Die Rolle der Wirtschaft in der Gesellschaft

51. Die traditionellen Indizes des Wirtschaftswachtums (wie zum Beispiel das GDP, das brutto Nationalprodukt, die jährliche Zuwachsrate, usw.) können weder die wahre wirtschaftliche Entwicklung des Landes, noch die Erschöpfung der natürlichen Rohstoffe ausdrücken. Die Bemühung, unter allen Umständen ein Ansteigen dieser Kennziffer zu erreichen führte weltweit dazu, daß sich der Zustand der Umwelt und die Lebensqualität verschlechterten. Für die Sicherung der Bedingungen und für die Festlegung der Richtung des wahren, ?aufrechterhaltbaren? Wachstums sollen ein neues Bewertungssystem der Nationalökonomie und neue Kriterien der Ergebnisse zur Anwendung kommen.

52. Die katholische Soziallehre erkennt einerseits die Autonomie und die eigenständige Entwicklungsgesetze der Wirtschaft als einer Sphäre der Gesellschaft; andererseits jedoch weist sie eindeutig jene Auffassung zurück, die von dieser relativen Unabhängigkeit ausgehend kein anderes Maß der Wirtschaft anerkennt, als die Verwirklichung der Eigeninteressen von Individuen und Gruppen. ?Alle wirtschaftliche Tätigkeit ist - nach den ihr arteigenen Verfahrensweisen und Gesetzmäßigkeiten - immer im Rahmen der sittlichen Ordnung (...) auszuüben.? (GS 64).

Wir können also nicht schweigend akzeptieren, daß die Entscheidungen allermeist nur den kurzfristigen Interessen verschiedener Interessengruppen entsprechend und gewissermaßen zufällig getroffen werden auch wenn dabei das Schlagwort der sozialen Marktwirtschaft betont wird und auch das nicht, daß die Wirtschaftspolitik seit Jahren unter dem Druck augenblicklicher Zwänge weitergetrieben wird. In der oben beschriebenen, schweren Situation der Wirtschaft könnte nur dann eine Veränderung eintreten, wenn einerseits, in der Suche nach Lösungen, die Leiter der Wirtschaftspolitik und alle Teilnehmer des Wirtschaftslebens die notwendige Demut, Offenheit und Selbstlosigkeit aufbringen würden - zumal niemand ein wirtschaftspolitisches Wundermittel besitzt -, und wenn andererseits die betreffenden Interessengruppen eine nüchterne Selbsteinschränkung und Mäßigung aufbringen würden. Ohne dies wird eine unerträgliche Konzentration der wirtschaftlichen Macht entstehen.

53. Grundlegendes Ziel der Wirtschaft und ?die fundamentale Zweckbestimmung dieses Produktionsprozesses besteht aber weder in der vermehrten Produktion als solcher noch in der Erzielung von Gewinn oder Ausübung von Macht, sondern im Dienst am Menschen, und zwar am ganzen Menschen, im Hinblick auf seine materiellen Bedürfnisse, aber ebenso auch auf das, was er für sein geistiges, sittliches, spirituelles und religiöses Leben benötigt.? (GS 64).

Die Kirche hat in den vergangenen hundert Jahren konsequent beide einseitigen Vorstellungen der Organisation der Wirtschaft abgelehnt: sowohl den Kollektivismus, als auch den ausschließlich auf freien Wettbewerb basierenden liberalen Kapitalismus. ?Niemals darf der wirtschaftliche Fortschritt der Herrschaft des Menschen entgleiten; ebensowenig darf er der ausschließlichen Bestimmung durch wenige mit übergroßer wirtschaftlicher Macht ausgestattete Einzelmenschen oder Gruppen noch auch durch den Staat, noch durch einige übermächtige Nationen ausgeliefert sein.? (GS 65). 1991 wurde es noch als eine ?Nörgelei? angesehen, als Johannes Paul II., nach dem eindrucksvollen Sieg des Kapitalismus, in seiner Enzyklika Centesimus annus es für unangebracht hielt, die Frage nach dem erwünschten Gesellschaftsystem einseitig mit einem Modell zu beantworten. ?Die Antwort ist natürlich kompliziert. Wird mit » Kapitalismus« ein Wirtschaftssystem bezeichnet, das die grundlegende und positive Rolle des Unternehmens, des Marktes, des Privateigentums und der daraus folgenden Verantwortung für die Produktionsmittel, der freien Kreativität des Menschen im Bereich der Wirtschaft anerkennt, ist die Antwort sicher positiv. (...) Wird aber unter » Kapitalismus« ein System verstanden, in dem die wirtschaftliche Freiheit nicht in eine feste Rechtsordnung eingebunden ist, die sie in den Dienst der vollen menschlichen Freiheit stellt und sie als eine besondere Dimension dieser Freiheit mit ihrem ethischen und religiösen Mittelpunkt ansieht, dann ist die Antwort ebenso entschieden negativ. Die marxistische Lösung ist gescheitert, aber (...) es besteht die Gefahr, daß sich eine radikale kapitalistische Ideologie breitmacht (...), da sie die Lösung (dieser Probleme) in einem blinden Glauben der freien Entfaltung der Marktkräfte überläßt.? (CA 42). Die Welt ist inzwischen aus den Illusionen der Wende ernüchtert. Die Worte der Enzyklika haben sich schmerzlich bestätigt.

54. Die multinationalen Unternehmen erfüllen ihre wahre Aufgabe erst dann, wenn sie auch die Ordnung der höher entwickelten Wirtschaftssysteme mit sich bringen, und damit die hiesige wirtschaftliche Kultur und Moral fördern. Es besteht immer die Möglichkeit und die Versuchung dem schwächeren Wirtschaftspartner gegenüber die eigene Überlegenheit spielen zu lassen. Die Lehre der katholischen Kirche macht ausdrücklich aufmerksam darauf, daß die Globalisierung der Weltwirtschaft mit der Globalisierung der Verantwortung einhergeht. - Dies sollte auch den Eigentümern des in Ungarn immer mehr gewichtigen ausländischen Kapitals bewußt gemacht werden.

Die Aufgaben des Staates in der Wirtschaft

55. Nach der katholischen Soziallehre hat der Staat eine wichtige Rolle beim Ausgleich der schädlichen Folgen des Marktes. Die Soziallehre hat die gerechte Verteilung, d.h. eine gewisse Minderung der materiellen Ungleichheit immer in den Begriff der gesellschaftlichen Gerechtigkeit eingefasst. Im Kreis der Wirtschaftsfachleute hat sich in den vergangenen Jahren die Ansicht verbreitet, daß die Leistungen des Wohlfahrtstaates auf Grenzen stoßen, weil sie die wirtschaftliche Entwicklung verhindern. Die Begrenzung der Aufgaben des Staates ist freilich nicht gleichbedeutend mit dem Auszug des Staates aus dem Wirtschaftsleben, zumal er das insitutionelle System der Marktwirtschaft aufbauen und aufrechterhalten muß; die Rechte der Bürger im Wirtschaftsleben verteidigen muß; und die Freiheit des Wettbewerbs durch die Einschränkung der Monopole und durch die Regelung des Wettkampfes sichern muß (CA 48).

56. Es ist von nationalem Interesse, daß die ländliche und die sich aus der Landwirtschaft ernährende Bevölkerung wieder einen festen Stand gewinnt, sich wirtschaftlich erholt und daß ihr Gemeinschaftsleben und das System ihrer moralischen Werte sich erneuern. Es steht im Interesse des ganzen Landes, daß immer mehr in der Landwirtschaft tätige Staatsbürger jenen Boden, den sie bearbeiten als ihr Eigentum ansehen können. Für dieses Ziel müssen sie genügend geistige und materielle Unterstützung bekommen, damit unsere Landwirtschaft wieder produktiv und effektiv wird.

Die moderne landwirtschaftliche Strategie bricht mit der Praxis der spezialisierten Produktherstellung. Heutzutage spricht man lieber über Landschaftsnutzung. Damit wird ausgesagt, daß die landwirtschaftliche Produktion nur dann auf lange Sicht existieren kann, wenn anstelle eines einzigen Feldes der pflanzlichen Produktion oder einer Tierfarm eine ganze Landschaft als eine Einheit angesehen wird. Neben der landwirtschaftlichen Tätigkeit werden die harmonische Entwicklung der Region, die Gründung neuer Unternehmen, die Bewahrung wirtschaftlich nicht genützer Naturgebiete, die menschlichen Beziehungen und die Bedeutung der lokalen Bräuche betont. Die Landschaft und die Menschen sollen in harmonischer Beziehung miteinander zusammenleben.

57. Nicht nur wegen der sozialen Frage, sondern auch im Interesse der wirtschaftlichen Zukunft muß verhindert werden, daß die Gesellschaft endgültig in zwei Hälften zerbricht. Wenn unsere Gesellschaft weiterhin einerseits aus einer schmalen Eliteschicht und andererseits aus Massen, die am Rande der Gesellschaft leben, bestehen wird, kann Ungarn in der Europäischen Union - wenn es ihm der Anschluß überhaupt ermöglicht wird - lediglich in einer schutzlosen Lage sein Leben fristen. Viele Deklarationen über die Wichtigkeit des Menschen und über die Bildung als der Treibkraft des sozialen Systems sind in den vergangenen Jahren vorgetragen worden. Es fehlte aber an wirksamen staatlichen und gesellschaftlichen Anstrengungen, die die extreme Zunahme der Chancenungleichheit hätten verhindern können. Das endgültige Kriterium der Beurteilung jeder Reform des Staatshaushaltes liegt gerade darin, ob diese neben der Dämmung der Kosten nicht die Gefahr in sich trägt, daß die Zukunft ?aufgezehrt? wird. ?Es ist die Aufgabe des Staates, für die Verteidigung und den Schutz jener gemeinsamen Güter, wie die natürliche und die menschliche Umwelt, zu sorgen, deren Bewahrung von den Marktmechanismen allein nicht gewährleistet werden kann. Wie der Staat zu Zeiten des alten Kapitalismus die Pflicht hatte, die fundamentalen Rechte der Arbeit zu verteidigen, so haben er und die ganze Gesellschaft angesichts des neuen Kapitalismus nun die Pflicht, die gemeinsamen Güter zu verteidigen, die unter anderem den Rahmen bilden, in dem allein es jedem einzelnen möglich ist, seine persönlichen Ziele auf gerechte Weise zu verwirklichen.? (CA 40).

58. Die Beseitigung der Schwarzwirtschaft ist nur mit Hilfe aufeinander abgestimmter Maßnahmen möglich. Neben der vernünftigen Minderung der Steuerlasten soll die schnelle Aufdeckung der Gesetzwidrigkeiten, sowie ihre strenge Bestrafung gesichert werden. Als gemeinsame Folge dieser Maßnahmen wird es sich immer mehr lohnen sich in der legalen Wirtschaft zu beteiligen, und das wiederum kann die Gefahr mindern, daß die Gesellschaft in eine reiche und in eine arme Hälfte zerfällt. Jede Bemühung ist jedoch umsonst, wenn sich parallel mit diesen Regelungen die Auffassung der Menschen nicht ändert, und hier tragen die Christen eine besonders große Verantwortung.

Nur von einem stabilen marktwirtschaftlichen System der Institutionen und von einer berechenbaren Rechtsordnung ist zu erwarten, daß die Unternehmer die geschäftliche Lauterkeit beibehalten, und auf eine lange Sicht angelegt und mit Verantwortung wirtschaften. Die staatliche Wirtschaftspolitik und das Verhalten der Individuen müssen sich auch hier gemeinsam ändern.

59. Der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit verspricht ebenfalls keine raschen, spektakulären Siege. Das spricht jedoch weder den Staat noch die Teilnehmer des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens davon frei, daß sie gemäß ihren spezifischen Aufgaben immer größere Anstrengungen für die Vollbeschäftigung machen.

60. Die Gesellschaft kann sich die schmerzvolle Erkenntnis nicht ersparen, daß sie über die Möglichkeiten der Ausweitung ihres materiellen Wohlstandes mehr wirklichkeitsnahe Erwartungen formulieren muß. Eine einfachere, natürliche und zugleich gesündere Lebensführung soll mehr Aufmerksamkeit bekommen. Das betrifft sowohl die Vorgänge in der ungarischen und internationalen Wirtschaft, als auch die globalen Umweltprobleme. Wir dürfen auch nicht vergessen, daß der größere Teil der Erdbevölkerung in einem unvergleichbar grösseren Elend als wir lebt, Hunderte von Millionen Menschen hungern auf dieser Erde, vor allem in der südlichen Hemisphäre.

61. Es wäre sehr wichtig schon den Kleinkindern mit Hilfe der Erziehung beizubringen: die Erde haben wir bekommen, um sie zu schützen und für unsere Nachkommen aufzubewahren. Für die Christen ist der Schutz der natürlichen Umwelt eine besondere Aufgabe, eine ganz klare Anweisung: ?Gott, der Herr, nahm also den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, damit er ihn bebaue und hüte.? (Gen 2,15). Wir können selbstkritisch feststellen, daß wir diesen Aspekt in der moralischen Erziehung vernachlässigt haben. Dabei sind wir alle dafür verantwortlich, die Sauberkeit, Ordnung und Schönheit unserer engeren und weiteren Umgebung zu bewahren und zu pflegen, die Natur, das Land, die Erde zu schützen. Im Umweltschutz hat also auch das individuelle Verhalten eine bedeutende Rolle.

Das Eigentum und die Arbeit

62. Die Kirche lehrt konsequent, daß das Recht auf Privateigentum zu den Grundrechten des Menschen gehört. Dieses Recht ist jedoch nicht absolut, sondern muß in seiner Anwendung und in seinem Wirken auch dem Wohl des Gemeinwesens dienen. Die ärmeren Schichten der ungarischen Gesellschaft tragen seit Jahren immer schwerere Lasten. Es wurde eben schon darauf hingewiesen, daß die Gesellschaftsschichten die sich in günstigeren und stärkeren wirtschaftlichen und politischen Situation befinden wesentlich mehr Rücksichtnahme und Solidarität zeigen müssten. Die Notwendigkeit der Kapitalakkumulation schließt es nicht aus, daß die politische Elite und die Unternehmer der Wirtscheft in ihrem Konsumverhalten zurückhaltender werden, und einen größeren Teil des erwirtschadteten Gewinnes für die Unterstützung anderer abgeben. ?Gott hat die Erde mit allem, was sie enthält, zum Nutzen aller Menschen und Völker bestimmt (...). Darum soll der Mensch, der sich dieser Güter bedient, die äußeren Dinge, die er rechtmäßig besitzt, nicht nur als ihm persönlich zu eigen, sondern muß er sie zugleich auch als Gemeingut ansehen in dem Sinn, daß sie ihm nicht allein, sondern auch anderen von Nutzen sein können.? (GS 69).

?Die Kirche anerkennt die berechtigte Funktion des Gewinnes als Indikator für den guten Zustand und Betrieb des Unternehmens. (...) Der Gewinn ist ein Regulator des Unternehmens, aber nicht der einzige. Hinzu kommen andere menschliche und moralische Faktoren, die auf lange Sicht gesehen zumindest ebenso entscheidend sind für das Leben des Unternehmens.? (CA 35).

63. Im Kreise der Arbeitsnehmer erscheinen miteinander die Angst vor der Arbeitslosigkeit das daraus entstehende hochgradige Ausgeliefertsein und die undisziplinierte, ungenaue Arbeitsweise. Die Rechte und die Pflichten der Arbeitnehmer sollen in jedem Bereich der Wirtschaft miteinander ins Gleichgewicht kommen. Die Arbeitnehmer sollen für ihre Arbeit einen angemessenen Lohn bekommen, und sie sollen die Möglichkeit der Teilnahme in den Entscheidungen an ihrem Arbeitsplatz erhalten. Für die Schaffung der institutionalisierten Ordnung reicht es jedoch nicht aus, einige Gesetze zu schaffen: sie kann nur aus der gemeinsamen Anstrengung der Individuen entstehen. Das Grundprinzip der gesamten sozialethischen Ordnung ist das Prinzip der gemeinsamen Nutzung der Güter. Der Arbeitnehmer wird daran vorrangig durch den gerechten Arbeitslohn beteiligt, den er als Gegenleistung für seine Tätigkeit erhält. ?Die Bezahlung, das heißt der Lohn für die geleistete Arbeit, (bleibt) der konkrete Weg, auf dem die meisten Menschen zu jenen Gütern gelangen, die zur gemeinsamen Nutzung bestimmt sind.? (LE 88/19.2).

64. Im Zusammenhang mit der Arbeit kommen auch Aspekte unserer persönlichen Lebensführung in den Blick. Die Arbeit ist ein wichtiges Element unseres Lebens, wir dürfen aber nicht zum Sklaven derselben werden. Die Notwendigkeit des Überlebens oder gar die Aneignung von Luxusgütern, das ?Reichwerden?, zwingt viele Menschen zu großen, übertriebenen Anstrengungen. Das Familienleben oder der Ruhetag darf jedoch nicht dafür geopfert werden (MM 248-253).

Die Katholiken sollen sich bei ihren wirtschaftlichen Entscheidungen - als Gestalter der Wirtschaftspolitik, als Unternehmer oder als Arbeitnehmer - nach den aus ihrem Glauben erwachsenen Werten richten. An der Vermittlung jenes Wissens, das zum Umgang mit der gegenwärtigen sozialen Marktwirtschaft notwendig ist, insbesondere an der Weitergabe von wünschenswerten Verhaltensmustern, soll sich die Kirche, im Rahmen der Erwachsenenbildung, auch institutionell beteiligen.

3. Staat und Politik

A. Situationsanalyse

Die politische Wende und ihre Konsequenzen

65. In den ehemaligen sozialistischen Ländern erfolgte eine radikale Umstrukturierung des Systems staatlicher Institutionen und des politischen Lebens. So geschah es auch in Ungarn im Zuge des friedlichen Überganges, bei der sog. ?verfassungsmäßigen oder rechtstaatlichen Revolution? in den Jahren 1989-1990. Es soll an zahlreiche positive Momente dieses Prozesses erinnert werden, die auf dem Gebiet der Verfassungskonformität, der Rechtstaatlichkeit, der freien Wahlen, der Rede-, der Versammlungs- und der Religionsfreiheit, und im allgemeinen auf dem Gebiet der Anerkennung der Menschenrechte, die früher lediglich als Schlagwörter benutzt, jetzt tatsächlich verwirklich wurden. Viele Werte, die 40 Jahre lang gefehlt haben, sind im Leben der Gesellschaft wieder zur Wirklichkeit geworden, darunter das Mehrparteiensystem und der politische Pluralismus. Das ist in Ungarn vor 1989 unvorstellbar gewesen, obwohl diese die Werte der Menschenwürde, der Gerechtigkeit und der Freiheit fördern, Werte die auch die Kirche verkündet. Die Institutionen einer, mit einem Mehrparteiensystem funktionierenden pluralistischen Demokratie wurden errichtet, ihre Tätigkeit hat bislang grundsätzlich der Stabilität gedient. Keine grosse Institution hat die Grundsätze der Verfassungmäßigkeit und der Rechtstaatlichkeit demonstrativ verletzt, oder den Weg der Achtung der Gesetze verlassen. Die demokratischen Institutionen haben sich als fest und stabil erwiesen.

Die Enzyklika Centesimus annus hat jedoch bereits im Jahre 1991 darauf aufmerksam gemacht, daß die Länder die diese Transformation durchmachen eine wahre ?Nachkriegszeit? mit zahlreichen Problemen erleben werden (CA 28). Die politische Umstrukturierung und die Demokratie haben nicht den von vielen erhofften Wohlstand erbracht. Unsere Situation kann zusammenfassend folgendermaßen charakterisiert werden: viele unserer berechtigten Hoffnungen wurden verwirklicht - wir müssen uns aber noch lange bemühen, damit sich ein wirklich menschenwürdiges Leben in der ungarischen Gesellschaft entwickelt.

66. Die Inhaber der Macht, die Mitglieder der politischen Klasse sind nicht imstande jene neue Qualität der Politik auf überzeugende und aufrichtige Weise zu repräsentieren die die Staatsbürger mit Recht erwarten. Ein Teil der Staatsbürger ist der Meinung, daß die Politiker, vor allem die vom Volk gewählten Abgeordneten und die parlamentarischen Parteien eine neue (aber oft immer noch aus den ?alten? Personen bestehende) Elite bilden, die kein Ohr für die wahre Situation und für die Probleme der Gesellschaft hat. Wir hoffen jedoch, daß der Großteil der Politiker sich ehrlich und korrekt bemüht, ihrer Berufung gerecht zu werden.

Eine paradoxe Situation der Umgestaltung des Staates besteht in Ungarn (wie auch in den anderen ehemals sozialistischen Ländern) darin, daß einerseits der totalitäre, zentralisierte, bürokratische und auf gesellschaftliches Eigentum konzipierte Staat abgebaut, andererseits ein auf Pluralismus basierender, funktionsfähiger Staat aufgebaut werden soll. Das bedeutet eigentlich einen Umbau. Da es jedoch keine ausgearbeiteten Modelle gibt, ist es nicht überraschend, doch keinesfalls akzeptabel, daß es Erscheinungen gibt, die zu einer ?Wiederverstaatlichung? und Zentralisierung führen. Eine Unsicherheit besteht deswegen in der Frage welche Rolle der Staat, insbesondere auf dem Gebiet der Sozialleistungen, übernehmen soll. Es ist ein schwer lösbarer Widerspruch, daß der Staat sich auf manchen Gebieten ausbreitet und die Fähigkeit der Selbstgestaltung der Gesellschaft schwächt, auf der anderen Seite jedoch zieht er sich aus dem Bereich der sozialen Leistungen zurück.

Die erfolgreiche Tätigkeit des Staates wird durch eine wirksame Verwaltung gesichert. Neben den guten Gesetzen sind die gute Verwaltung und eine angemessen bezahlte und korrekte Beamtenschaft unentbehrlich. Es ist zu bedauern, daß sich in der letzten Zeit viele Beamten gezwungen sahen, den öffentlichen Dienst wegen niedriger Löhne und den institutionellen Einschränkungen, zu verlassen.

67. Die Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft ist in vieler Hinsicht bis heute unklar. Die auch in Ungarn verwirklichte repräsentative Demokratie funktioniert auf die Weise, daß die vom Volk gewählten Abgeordneten für eine bestimmte Zeit ermächtigt werden die Aufgaben des Gemeinwesens ihren Wahlversprechen und ihrem Gewissen nach zu verrichten. Dies ist die Grundlage für die rechtliche Legitimität einer Regierung, die von der Mehrheit der Abgeordneten unterstützt wird. Die Gesellschaft ist jedoch auch für die gesellschaftliche Legitimität sehr empfindlich, die in der gesellschaftlichen Akzeptierung der politischen Macht besteht. Dazu wäre ein ehrlicher und kontinuierlicher Dialog zwischen der politischen Macht und der Gesellschaft notwendig, sowie ein funktionierendes System und die wirksame Arbeit der dazu notwendigen Institutionen. Die Organe des Staates und die gesellschaftlichen Organisationen sollten sich mehr anstrengen um die Einheit der Gesellschaft und die Initiativen und Institutionen der sozialen Partrnerschaft zu fördern und die bereits bestehenden zu unterstützen. Andernfalls kann die allgemeine Politikmüdigkeit eskalieren, die sich sowohl in dem Mißtrauen gegenüber der Politik, als auch in dem Rückgang der politischen Aktivität manifestiert.

Das Ausbleiben der Umgestaltung der Gesellschaft

68. Die wichtigste Zielsetzung der oppositionellen Politik - sowohl dem Staat, als auch jeglicher Art von zentraler oder monopoler Macht gegenüber - bestand vor 1989 in dem Aufbau einer selbstbewußten, sich selbst verwaltenden Gesellschaft, mit einer autonomen Gesellschaftsorganisation. Das wurde mit dem Begriff Zivilgesellschaft ausgedrückt, der gleichermassen beinhaltete die Bestrebung nach Dezentralisierung und den Wunsch gesellschaftlicher Beteiligung auf den ?unteren? Ebenen des öffentlichen Lebens - am Wohnort, am Arbeitsplatz und anderswo -, und nach der Schaffung der entsprechenden Organisation der Gesellschaft (wie es auch vom Prinzip der Subsidiarität gefordert wird). Aus dieser Zielsetzung ist kaum etwas verwirklicht worden. Es fehlt an entschiedenen politischen Konzepten und an konkreten Maßnahmen, die die Einbeziehung der Bürger vorantreiben würden. Die vergangenen 1-2 Jahre weisen, im Gegensatz dazu, sogar wieder in die Richtung der Zentralisierung, so zum Beispiel in der Verwaltung. Die politisch ungebildeten und unerfahrenen, oft enttäuschten Staatsbürger glauben andererseits selbst nicht mehr daran, daß sie für die Verbesserung der Verhältnisse ihrer engeren oder weiteren Umwelt etwas beitragen könnten. Der finanzielle Hintergrund für die wirksame Handlung der bereits existierenden zivilen Initiativengruppen fehlt in den meisten Fällen, sie werden deshalb unwirksam oder geraten finanziell in die Abgängigkeit des Staates. Es soll garantiert werden, daß die finanzielle Unterstützung der gesellschaftlichen Organisationen ihrem wahren Wert entsprechend und nicht nach politischen Gesichtspunkten oder gar nach persönlichen Interessen bestimmt wird.

69. Die politische Umwälzung hat nicht in hinreichendem Ausmaß das Aktivwerden der Gesellschaft im öffentlichen Leben mit sich gebracht. Ohne dieser Aktivierung kann aber die institutionell gewährte Möglichkeit der Demokratie nicht zu einer verwirklichten Praxis werden.

Es ist allerdings auch nach 1989 nicht das Interesse der staatlichen Bürokratie geworden, ihre eigene Vergesellschaftlichung einzuleiten und die bürgerlichen Bewegungen und die ?von unten? kommenden gesellschaftlichen Organisationen zu fördern. Die Zentralisierung, die sich in der Wirtschaft, im politischen Leben und in der Kultur zeigt, hat - auch wenn sie gelegentlich unumgänglich ist - in einer doppelten Hinsicht negative Folgen. Einerseits können sich die Initiativen von unten nicht entfalten. Die Individuen und die kleinen Gemeinschaften erlangen keine Erfahrungen auf dem Gebiet des öffentlichen Lebens und in den meisten Fällen entwickelt sich nicht einmal ihr Verantwortungsgefühl für die anderen, für das Gemeinwesen heraus. So bleiben wichtige Energien ungenützt. Andererseits entfernen und entfremden sich die Mammutorganisationen von der Welt der konkreten Menschen und von den unteren Ebenen der Gesellschaft, deren Ansprüchen und Erwartungen sie nicht gerecht werden können. Die freiwilligen Zusammenschlüsse der Individuen und der Gruppen sind dagegen überfordert und können deshalb ihre Aufgaben nur schwer erfüllen.

Eine günstige Änderung besteht aber darin, daß die weitere Stärkung der Zivilgesellschaft heute freier, mit mehr menschlichen und mit demokratischeren Methoden erfolgen kann, zumal gegenwärtig 41 Tausend gesellschaftliche Organisationen existieren - zumindest nach der offiziellen Registrierung.

B. Deutungen und Empfehlungen

Unsere persönliche Verantwortung

70. Die Bevölkerung keines Landes kann erwarten, daß die Organe und Institutionen der Regierung, oder der Verwaltung jede Aufgabe verrichten. Die Regierungen sind nirgendswo auf der Welt fehlerfreie Institutionen. Die Gesetzgebung ist oft das Ergebnis von kurzsichtigen Kompromissen. Die Verwaltung steht oft unter schlechter Leitung. Entscheidungen können gegebenenfalls unerwartete und unbeabsichtigte Konsequenzen haben. Die Staatsbürger müssen auch selbst an der Lösung der Probleme teilnehmen, nicht nur durch die Ausübung ihres Wahlrechtes, sondern auch über gesellschaftliche und kirchliche Institutionen und auch über ihre individuellen Initiativen. Ihr Auftritt kann die Arbeit der zentralen oder kommunalen Verwaltungen ergänzen oder vielleicht korrigieren. Die Teilnahme an der ?Zivilsphäre? ist, auch im Sinne des Subsidiaritätprinzips, unentbehrlich für die Errichtung und für die Arbeit der demokratischen Institutionen.

71. Man darf nicht zulassen, daß der sich in der Gesellschaft ausbreitende Pessimismus, die Resignation und der Mißmut dominierend werden. Wir weisen hier zwar kritisch auf Sorgen, auf Übel und auf Fehler hin, sind uns jedoch darüber im Klaren - was heutzutage viele nur zu leicht vergessen -, daß das seit 1989-1990 gestaltete institutionelle System der Politik und des Staates, anstelle des alten, totalitären und eine einzige Partei und deren Leiter bedienenden Regimes der vergangenen Jahrzehnte, eine neue, mehr aufrichtige und mehr humane Welt hervorbrachte. Wir dürfen nicht vergessen, daß dem Großteil der Gesellschaft Jahrzehnte hindurch solche - lediglich auf Papier existierenden - grundlegenden Voraussetzungen der Menschenwürde vorenthalten wurden, wie die Menschenrechte, darunter die Religionsfreiheit, die Demokratie und die Rechtstaatlichkeit. Die Kirche widersetzt sich deshalb der kleinlichen Ansicht, die lediglich die Schwierigkeiten und schlechte Seiten der Veränderungen sieht, bzw. die die wunderbare Gabe der Freiheit vergisst und somit eine falsche Nostalgie für die Vergangenheit nährt.

  1. Die Schaffung und die Förderung eines demokratischen Modells der

Gesellschaft ist Pflicht eines jeden Christen (OA 24). Ein Teil davon ist das Prinzip des Rechtstaates, ?in dem das Gesetz und nicht die Willkür der Menschen herrscht? (CA 44). ?Eine wahre Demokratie ist nur in einem Rechtsstaat und auf der Grundlage einer richtigen Auffassung vom Menschen möglich. Sie erfordert die Erstellung der notwendigen Vorbedingungen für die Förderung (...) der einzelnen Menschen durch die Erziehung und Bildung (...)? (CA 46). Es ist zwar verständlich, doch bedauerlich, daß der wichtigste Grund für die fehlende Verständigung zwischen dem Staat und der Gesellschaft und für das Mißtrauen gegenüber der Politik im Mangel an Kenntnissen über die Funktionsweise der Politik und der Demokratie liegt. Die Demokratie, die Rechtstaatlichkeit, die Verfassungsmässigkeit sind Werte, die man nicht einfach als Geschenk erhalten kann, sondern die erlernt und allmählich in unsere Denkweise, in die allgemeine Kultur integriert werden müssen. Deswegen ermutigen wir unsere Gläubigen und alle Menschen, trotz den Schwierigkeiten des Auskommens und der politischen Enttäuschung diese grundlegenden Werte kennenzulernen und sich anzueignen. Wir tun das besonders im Bewußtsein ?daß das Gemeinwohl sich auf den ganzen Menschen erstreckt, also auf die Erfordernisse des Leibes ebenso wie auf die des Geistes? (PT 57). ?Die heute dem Volk und besonders der Jugend so notwendige staatsbürgerliche und politische Erziehung ist eifrig zu pflegen, so daß alle Bürger am Leben der politischen Gemeinschaft aktiv teilnehmen können? (GS 75).

Erwartungen von der Politik und von dem Staat

73. Die Soziallehre der Kirche umreißt ganz klar die wünschenswerte Funktion und Kompetenz des Staates. Das II. Vatikanische Konzil weist -wie wir es bereits gesehen haben - auf die Gegenseitigkeit der Rechte und Pflichten hin. Es betont die Pflichten des Staates im Dienste der Gesellschaft. Die Staatsbürger werden jedoch ermahnt, der öffentlichen Hand keinen übergroßen Einfluß zu gewähren aber auch genausowenig unbegründete und übertriebene Begünstigungen von ihr zu verlangen. Als Gegenleistung für die vom Staat erlangte Sicherheit und Dienstleistungen soll jeder Mensch mit dem Verantwortungsbewusstsein der Gesellschaft gegenüber ?zahlen?. Die schwere Aufgabe der Staatsbürger besteht darin, ein sensibles Gleichgewicht zwischen Autorität und Freiheit, zwischen Privatinitiative und Solidarität, zwischen der notwendigen Einheit und dem Pluralismus herzustellen.

74. Die Erwartungen dem Staat und der Politik gegenüber können im Spiegel der genannten Grundprinzipien formuliert werden.

Obwohl der Begriff ?Gemeinwohl? aus dem Sprachgebrauch und der Praxis der ungarischen Öffentlichkeit verschwunden ist, müssen wir anhand der Soziallehre der Kirche daran erinnern, daß sowohl die Individuen, als auch die verschiedenen Gemeinschaften, als auch der Staat verpflichtet sind sich um das Gemeinwohl, das das Wohl der ganzen Gesellschaft und der einzelnen Individuen einschließt, zu bemühen. Die führenden Personen des Staates dürfen nicht ausgewählten Personen oder Gruppen rechtswidrige und ungerechte Begünstigungen zukommen lassen, sondern müssen immer das Wohl der ganzen Gesellschaft suchen. ?Auf keinen Fall darf zugelassen werden, daß die Staatsgewalt dem Vorteil eines einzelnen oder nur wenigen diene, während sie doch für das Wohl aller eingesetzt ist.? (PT 56).

Es ist die Pflicht des Staates, auf der Grundlage der Gerechtigkeit, der Nächstenliebe und der Freiheit, die moralischen Normen, die Verfassungsmäßigkeit und das Gemeinwohl zu fördern (PT 63), um dadurch eine neue, humanere Ordnung der zwischenmenschlichen Beziehungen zu schaffen: ?Beziehungen der einzelnen untereinander; zwischen den einzelnen und ihren Staaten; den Staaten untereinander; schließlich Beziehungen der einzelnen, der Familien, der intermediären Körperschaften, den Staaten auf der einen Seite zur Gemeinschaft aller Menschen auf der anderen.? (PT 163).

75. Die Regierung soll zur Stärkung der Zivilgesellschaft beitragen, die Voraussetzungen für das Handeln deren Organisationen garantieren, damit sich die erneute Verstaatlichung der Gesellschaft nicht fortsetzt. Sie soll die Initiativen auf niedrigeren gesellschaftlichen Ebenen gegenüber der stärkeren und höheren Ebenen schützten, und die Konzentration der politischen und wirtschaftlichen Macht einschränken. ?Die Rechte aller Personen, Familien und gesellschaftlichen Gruppen und deren Ausübung sollen anerkannt, geschützt und gefördert werden zusammen mit den Pflichten, die alle Staatsbürger binden. Unter diesen Pflichten muß ausdrücklich die Pflicht genannt werden, dem Staat jene materiellen und persönlichen Dienste zu leisten, die für das Gemeinwohl notwendig sind? (GS 75).

76. Gewisse Richtungen der politischen und wirtschaftlichen Philosophie erwarten vom Staat, daß er ausschließlich die erfolgreichsten Individuen, Organisationen und Unternehmen unterstütze - in der Hoffnung, daß diese später die Zukunft des Landes sichern werden. Die Erfahrungen der vergangenen Jahre haben diese Hypothese keinesfalls bestätigt. Im Sinne der katholischen Soziallehre müssen wir die Erwartung formulieren, daß der Staat - innerhalb seiner Möglichkeiten - für alle ein meschenwürdiges Leben sichern soll. Der Staat soll also keineswegs eine nur die Wirtschaft fördernde, sondern auch eine, die sozial Bedürftigen unterstützende Politik verfolgen (PT 64).

Die Unterstützung der Menschen bedeutet vor allem, die Herstellung ihrer Handlungsfähigkeit und ihrer Fähigkeit zur Selbstversorgung. Das Funktionieren des Staates ist nicht dann gut, wenn er passive Bürger konfliktfrei lenkt und ?bemuttert?, sondern wenn er seine Bürger zu verantwortlichen, zur Regelung der eigenen Anliegen fähigen Menschen erzieht. Damit sind die erwünschten Entwicklungswege sowohl für das Bildungswesen als auch für die Organisation des Staates angegeben (PT 63, CA 48).

Die Verantwortung und die Aufgaben der Zivilgesellschaft

77. Die Erschaffung einer ?Zivilgesellschaft?, die die Verantwortung für sich übernehmen und sich versorgen und verwalten kann, ist eine moralische Pflicht und eine praktische Aufgabe an erster Stelle der Menschen selbst und ihrer Gemeinschaften. Die Christen sollen im Bewußtsein und mit der Verantwortlichkeit ihrer von Gott erhaltenen Sendung im Dienst des Gemeinwohls stehen und sich für die Erschaffung einer solidaren Gesellschaft bemühen. ?In vollem Einklang mit der menschlichen Natur steht die Entwicklung von rechtlichen und politischen Strukturen, die ohne jede Diskriminierung allen Staatsbürgern immer mehr die tatsächliche Möglichkeit gibt, frei und aktiv teilzuhaben an der rechtlichen Grundlegung ihrer politischen Gemeinschaft, an der Leitung des politischen Geschehens, an der Festlegung des Betätigungsbereichs und des Zwecks der verschiedenen Institutionen und an der Wahl der Regierenden.? (GS 75). Wichtig für die Entstehung der die gesellschaftliche Autonomie fördernden Reformen sind ?(...) die Bemühungen der organisierten Selbsthilfe der Gesellschaft in der Erstellung wirksamer Formen der Solidarität, die imstande waren, Wirtschaftswachstum mit mehr Achtung vor dem Menschen zu verbinden.? (CA 16).

Der Staat soll mit seinen eigenen Mitteln die Geburt einer demokratischen und pluralistischen Zivilgesellschaft anspornen und unterstützen, indem er den von unten entstehenden und dem Wohl der Gemeinschaft dienenden Initiativen (darunter auch den religiösen und den kirchlichen) die notwendigen Unterstützungen gewährt, ohne diese an politische, weltanschauliche oder sonstige Bedingungen zu knüpfen. ?Die Regierenden sollen sich davor hüten, den Familien, gesellschaftlichen und kulturellen Gruppen, vorstaatlichen Körperschaften und Institutionen Hindernisse in den Weg zu legen oder ihnen den ihnen zustehenden freien Wirkungskreis zu nehmen; vielmehr sollen sie diese großzügig und geregelt fördern.? (GS 75).

  1. Es ist die Verpflichtung jedes einzelnen Menschen und der Gesellschaft,


ihre Aufgaben gemeinsam zu lösen: die Gemeinschaften und die Institutionen des Gemeinschaftslebens zu erschaffen um miteinander einen ständigen Dialog zu führen, indem die gegenseitigen Unterschiedlichkeiten anerkannt und akzeptiert werden. Die Demokratie muß erlernt und geübt werden. Die Bedingung ihrer Verwirklichung ist es jedoch, den anderen Menschen, Institutionen oder Gemeinschaften zu Wort kommen zu lassen. Dafür reicht es nicht aus, die Freiheit und die Rechtstaatlichkeit zu erwerben. Das ehemalige Regime hat die politische, kulturelle und wirtschaftliche Macht in die Hand von wenigen gelegt. Dieser Zustand hat sich auch bis heute nicht verändert, hat höchstens eine neue Gestalt angenommen und behindert weiterhin daß die ?kleinen Leute? (und alle Gruppen, Organisationen oder Weltanschauungen, die im sozialistisch-kommunistischen System diskriminiert wurden) zu Wort kommen und ihre Interessen durchsetzen können. Wenn der Staat sich auf seine Neutralität beruft und keine Rücksicht auf diesen Zustand nimmt, dann rettet er damit die vom vergangenen System geschaffene Verhältnisse in die Zukunft. Der Schutz von und die Ermutigung zum ?Andersdenken? und dem Pluralismus sind Pflichten des Staates (und natürlich auch der Gesellschaft, der Kirche und aller anderen Institutionen). ?Das Vatikanische Konzil erklärt, daß die menschliche Person das Recht auf die religiöse Freiheit hat. Diese Freiheit besteht darin, daß (...) in religiösen Dingen niemand gezwungen wird, gegen sein Gewissen zu handeln.? (DH 2). Es ist jedoch selbstverständlich, daß der Pluralismus keine unbegrenzte moralische Freizügigkeit bedeuten kann: ?Alle Menschen sind ihrerseits verpflichtet, die Wahrheit (...) zu suchen und die erkannte Wahrheit aufzunehmen und zu bewahren.? (DH 1).

4. Die Kultur

79. Die Erneuerung unseree individuellen und gesellschaftlichen Lebens hängt nicht nur von politischen und wirtschaftlichen Umständen ab, sondern auch in großem Maße von der Qualität unserer individuellen und gemeinschaftlichen Lebensführung. In diesem Zusammenhang möchten wir drei Themenkreise hervorheben: die Alltagskultur, die Kommunikation und das Bildungswesen.

Im weiten Sinne des Wortes nennen wir all jenes Wissen Kultur, das die Lebensumstände des Menschen bestimmt, das also der Mensch bedarf um - der von seinem Schöpfer erhaltenen Ermächtigung und seinem Befehl folgend - seine eigene Persönlichkeit zu gestalten, um persönliche Beziehungen herzustellen, um Gemeinschaften zu gründen und um auf den verschiedenen Gebieten des Lebens mit seiner Tätigkeit Werke zu schaffen. ?Unter Kultur im allgemeinen versteht man alles, wodurch der Mensch seine vielfältigen geistigen und körperlichen Anlagen ausbildet und entfaltet.? (GS 53). Ohne Kultur ist kein Leben im menschlichen Sinne möglich. In diesem Zusammenhang sollen wir sowohl über unsere persönliche Lebens- und Denkweise, als auch über die Strukturen (Institutionen) der Gemeinschaft und der Kultur sprechen.

Die (gesellschaftliche) Kommunikation kann von der Kultur nicht getrennt werden, ist aber dennoch ein davon unterschiedenes Phänomen. Ihre Bedeutung besteht für uns alle darin, daß eine wahre Gemeinschaft (communio) ohne Kommunikation nicht entstehen kann. Die Gesellschaft (und der Mensch der darin lebt) kann nur durch Kommunikation zur echten Gemeinschaft werden, in der für die einzelnen Mitglieder und Gruppen das gemeinsame Wissen (die Kultur selbst) erst erreichbar wird. Dieses gibt einerseits die Möglichkeit des menschlichen Lebens, andererseits wird dadurch die Herausbildung der individuellen und der gemeinschaftlichen Identität ermöglicht; das heißt das die (gesellschaftliche) Kommunikation für des Individuum die Sozialisation, sich der Gemeinschaft der Gesellschaft anzuschliessen und mit anderen einen gesellschaftlichen Konsens herauszubilden, ermöglicht. Damit wird die (gesellschaftliche) Kommunikation zu einem wichtigen Werkzeug der Strukturierung der Gesellschaft. Da die Liebe die Urquelle, die Basis und die Erfüllung unserer Existenz ist, genügt es nicht, sie lediglich in unseren persönlichen Beziehungen, in unserem Privatleben zu erleben, sondern wir müssen sie auch im Leben der Gesellschaft Wirklichkeit werden lassen. Papst Johannes Paul II. hat wiederholt aufgerufen, auf den Spuren Christi die Zivilisation der Liebe aufzubauen, weil das Fortkommen oder das Überleben überhaupt nur auf diese Weise gesichert werden kann.

Die Bildung und die Erziehung sind grundlegende und unentbehrliche Mittel der Entfaltung der Gesellschaft und der Entwicklung der Person. Der menschliche Fortschritt wir dadurch ermöglicht, daß wir das von unseren Vorfahren geerbte Wissen und Erfahrung an die kommende Generation weitergeben. In unserer sich schnell ändernden Welt und insbesondere inmitten der tiefgreifenden Umwälzungen Ungarns hat das Bildungssystem eine äußerst wichtige Funktion und eine große Verantwortung. Die Erziehung hat aber eine vielleicht noch grössere Bedeutung sowohl für das Individuum als auch für die Gesellschaft, denn der als frei erschaffene Mensch ist selbst für die Gestaltung seines Lebens und seiner Persönlichkeit verantwortlich, und die Mitglieder einer Gesellschaft haben gemeinsam die Verantwortung füreinander und für das Gemeinwohl zu übernehmen.

A. Situationsanalyse

Unsere individuelle Lebensführung

80. Wir sind auch selbst persönlich verantwortlich für unsere Schwierigkeiten und Probleme. Die vergangenen Jahrzehnte haben in unserer körperlichen und geistigen Gesundheit schwere Schäden verursacht, auch die Ideale und das Wertesystem vieler Menschen wurden arg angegriffen. Für die Erneuerung ist demnach erforderlich, vor Gottes Angesicht unser Gewissen zu erforschen, über uns Rechenschaft abzulegen, unsere Ideale zu überprüfen und wo nötig, unser Verhalten, unsere Betrachtungsweise und unser eventuell fehlerhaftes oder verzerrtes Wertsystem zu verändern.

81. Seien es noch so viele Schäden, die die vergangenen 40 Jahre verursacht haben, die Verantwortung können wir immer weniger einfach der Vergangenheit aufbürden. Jeder einzelne Mensch hat seine besondere Verantwortung und Verpflichtung in der Gesellschaft. Die Verschlechterung der öffentlichen Moral, die Korruption, der egoistische Mißbrauch der politischen Macht, die schnelle und unmoralische Bereicherung einzelner, dies alles lastet schwer auf uns. Tatsache ist jedoch auch, daß die meisten von uns nicht nur passive und leidende Subjekte, sondern auch Beteiligte der Entstellungen und Verrenkungen unserer Gesellschaft sind, sei es durch falsche Entscheidungen oder durch unser passives Schweigen. Wir alle haben die persönliche Pflicht, die auf uns wartenden Aufgaben zu entdecken und diese verantwortungsvoll zu übernehmen.

82. Die Achtung des Lebens hat nachgelassen. Die Selbsmordrate ist, - trotz ihrer seit 1988 einsetzenden Abnahme -, insbesondere bei jungen Menschen sehr hoch. Die Zahl der Verbrechen gegen das Leben nimmt zu. Das Auslöschen des ungeborenen Lebens ist fast zur allgemeinen Praxis geworden. Die künstliche Beendigung des Lebens als unheilbar angesehener leidenden Menschen wird offen diskutiert. Einige Politiker befürworten die Legalisierung bestimmter Formen des Rauschgiftkonsums.

Der Großteil der Bevölkerung wurde zu einer selbstausbeutenden, ungesunden, selbstzerstörerischen, unmenschlichen Lebensführung gezwungen. Viele haben ihr Selbstvertrauen, und ihren Glauben und die Hoffnung auf die Zukunft verloren, vor allem wegen der Verarmung, wegen der Angst vor Arbeitslosigkeit, sowie wegen der Verschlechterung der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse.

83. Nach dem Zeugnis der Europäischen Wertestudie ist die ungarische Gesellschaft, verglichen mit anderen europäischen Ländern, in besonders großem Maße individualistisch geworden. In unserem Egoismus kümmern wir uns ausschließlich um uns selbst. Die Werte der gemeinsamen Freude, und der gemeinsamen Verantwortungsübernahme und die Pflicht der Fürsorge füreinander haben wir vergessen. Es ist jedoch erfreulich, daß es auch sichtbar entgegengesetzte Bemühungen gibt. Zahlreiche Bürgerinitiativen mit karitativen Zielen wurden gestartet. In den Kirchgemeinden hat man vor einigen Jahren damit angefangen, die Alten, die Kranken, die kinderreichen Familien und andere Bedürftigen ausfindig zu machen und ihnen Hilfe zu leisten. Diese von unten entstehenden Ansätze der Selbsthilfe haben eine besonders wichtige Funktion, vor allem zu einer Zeit, als der Staat immer weniger Geld für die Sozialpolitik verwendet. Es ist wichtig die Solidarität mit den Mittellosen, die Unterstützung der Notleidenden und auch die auf diese Weise entstehende Gemeinschaft.

Die Kultur...

84. In anderen Zusammenhängen haben wir bereits gesehen, daß in den vergangenen Jahrzehnten unsere moralische Welt, unser Wertsystem verunsichert, in vieler Hinsicht beinahe völlig zerstört wurde. Dieser landesweite Wertverlust zeigt sich noch auffälliger unter den gegenwärtigen, sich ständig ändernden gesellschaftlichen Verhältnissen. Man kann keine bedeutenden Bemühungen erblicken für die Verbesserung des verzerrten Wertesystems der Menschen, für die Erhöhung ihrer Bildung, wo notwendig für die Hilfeleistung zu ihrer gesellschaftlichen Reintegration, für die Stärkung ihres Verantwortungsbewußtseins für sich selbst und für das Gemeinwohl.

Die Lebensqualität hat sich weiter verschlechtert; nicht nur in finanzieller Hinsicht, sondern auch im Bereich der moralischen und kulturellen Werte. Die daraus entstehenden Gefahren und die dadurch verursachten Schäden dürfen nicht unterschätzt werden, denn anhand dieser Werte wird es bestimmt worin der Sinn des Lebens besteht; was unsere Aufgaben Gott, uns selbst, und unseren Mitmenschen gegenüber sind; was Gut und was Böse ist. Da der genannte gesellschaftliche Verfall stark verbreitet ist, bekommt das Individuum auch von der Öffentlichkeit keine Hilfe zur Aneignung der Werte (darunter der moralischen Werte).

Der Wertverlust zeigt sich vor allem auf drei Gebieten dramatisch: im öffentlichen Leben, im Familienleben und im kulturellen Leben.

... im öffentlichen Leben

85. Da es 40 Jahre hindurch kaum die Möglichkeit zur freien Meinungsäußerung und zur Konfrontierung von Meinungen gegeben hat, ist es verständlich, daß ein Großteil der Gesellschaft die Respektierung der Mitmenschen, in Fällen wo die eigenen Meinungen oder Interessen von denen der anderen abweichen, für sich nicht für verpflichtend hält. Die Uneinigkeit, das Mißtrauen und die Friedlosigkeit verhindern nicht nur die Entstehung eines gesunden öffentlichen Lebens, sondern auch die gesunden, demokratischen politischen Verhältnisse. Die Achtung der Mitmenschen und auch die Fähigkeit und der Wille zur Rücksichtnahme haben auf eine ganz gefährliche Weise nachgelassen, obwohl ohne diese keine Gemeinschaft bestehen kann. Bei vielen Mitmenschen (leider manchmal auch bei solchen, die sich Christen nennen) existieren tief verwurzelten, oft rassistischen Vorurteile gegen Menschen anderer Konfession, gegen Nationalitäten, Minderheiten und letzendlich gegen einem jeden für fremd gehaltenen Menschen. Die gegenseitige Achtung fehlt auch im politischen und geschäftlichen Leben, oft sogar im alltäglichen Umgang miteinander. Wir akzeptieren den anderen Menschen nicht in seiner Eigenart wie Gott ihn erschaffen hat und wie ihn Gott liebt.

Der Schutz der grundlegenden Werte, die zum Leben der Gesellschaft und zur Sicherung der Menschenwürde notwendig sind, ist die Pflicht des Staates im Interesse der ganzen Gesellschaft. Keiner kann sich jedoch der gemeinsamen Verantwortung entziehen. Wir alle sollen uns bemühen, daß die elementaren menschlichen Werte auch im Denken der Gesellschaft ihren würdigen Rang erlangen.

86. Das Gemeineigentum, wie auch das Privateigentum sind gefährdet. Der Grund dafür kann nur teilweise in den Eigentumsverhältnissen der vergangenen Jahrzehnte gefunden werden. Einen größeren Schaden verursacht die Tatsache, daß die grundlegenden, das Eigentum betreffenden moralischen Gebote in Vergessenheit gerieten. Als ob die Werkzeuge an unserem Arbeitsplatz, die Gegenstände unserer Umwelt und das öffentliche Eigentum freie Beute für alle wären. Es liegt an uns, wie wir unsere Umwelt schützen, und wie weit das Gemeingut und das Eigentum des anderen geachtet und geschützt wird. Wo die Gesellschaft die Zerstörung und den Raub nicht verurteilt, dort sind das Recht und das Gesetz machtlos.

87. Es kann häufig festgestellt werden, daß Menschen selbst die elementarsten Normen der geschäftlichen Lauterkeit und Ehrlichkeit außer Acht lassen und sind bemüht sich gegenseitig zu betrügen um mit unrechtmässigen und amoralischen Methoden zum Gewinn zu kommen. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich auch die Arbeitsmoral in Ungarn verschlechtert. In den letzten Jahren hat sich das Arbeitstempo vielerorts beschleunigt, jedoch nicht überall und vielleicht nicht in genügendem Ausmaß. Wir sind Teilnehmer eines internationalen Wettbewerbs geworden woran sich nicht nur Westeuropäer sondern auch Südost- und Ostasiaten beteiligen. Unsere Wirtschaft kann ihren Platz nur mit einer, die gegenwärtige übertreffenden Leistung behaupten. Und der einzelnen Arbeitnehmer kann nur für härtere Arbeit ein höheres Einkommen erhoffen. Die mit vollem Einsatz ausgeführte ehrliche Arbeit ist eine moralische Verpflichtung und eine wirtschaftliche Notwendigkeit. Zur gleichen Zeit verbreiten sich aber neue Methode der Ausbeutung: es gibt Arbeitgeber die die Arbeitslosigkeit und die Möglichkeiten der Schwarzarbeit nutzen und Menschen für einen Hungerlohn beschäftigen.

88. Die rohe, grobe, egoistische, sogar für andere Menschen und für das Gemeinwesen schädliche, absichtlich zerstörerische, brutale Verhaltensweise verbreitet sich in einem gefährlichen Ausmaß. Die vandale Zerstörung verschont nicht einmal den geheiligten Raum der Kirchen. Gegen diese Erscheinungen und für die Schaffung und Verbreitung eines wahren Bildungsideals treten - von wenigen achtungswerten Bemühungen abgesehen - weder die öffentliche Meinung, noch die Medien, noch die Organe des Staates und die gesellschaftlichen Organisationen entschieden genug (oder gar überhaupt) auf.

89. Die Zukunft und das Handeln für die Zukunft werden von der Gesellschaft kaum als Werte angesehen: die für das individuelle und gemeinschaftliche Leben notwendigen Werte haben ihre Glaubwürdigkeit und ihr Anziehungskraft verloren. Auch inmitten der anwachsenden Armut ist das für die Konsumgesellschaft charakteristische Verhalten allgemein geworden. Es scheint, daß in dem, die ganze Gesellschaft prägenden Werteverlust die in der Vergangenheit offiziell verbreitete materialistische Ideologie zu ähnlichen Ergebnissen führt, als die vom Westen importierte säkularisierte Weltanschauung, die ausschließlich die individuellen materiellen Interessen betont. Es gibt viele, die keine Zukunftshoffnung haben, die es nicht gelernt haben bewußt und verantwortungsvoll zu planen und wenn notwendig im Interesse der eigenen besseren Zukunft auch Opfer zu akzeptieren. Bei jungen Leuten, wo das Fehlen von Perspektiven alles bisherige übersteigt und die Störungen der gesellschaftlichen Integration weiter wachsen, ist diese Verhaltensweise besonders beängstigend.

... im Familienleben

90. Ein bedauerlich großer Teil der Ehen ist oberflächlich, löst sich auf, erfüllt weder ihre menschliche, noch ihre sakramentale Funktion. In Ermangelung eines Zuhauses und dauerhafter menschlicher Beziehungen verlieren viele Menschen ihr inneres Gleichgewicht, ihre menschlich-moralische Haltung und statt der Gemeinschaft und dem Wohl der anderen zu dienen, werden sie zu Parasiten am Körper der Gesellschaft oder verschwenden mit schädlichen Laster ihr Leben und ihr Glück. Nicht nur die Zahl der Ehescheidungen ist sehr hoch, sondern es gibt auch viele, die von vornherein lebenslangen Bindungen abgeneigt sind: immer mehr Menschen leben mit Lebensgefährten ohne Eheschließung. Es ist ebenfalls bedauerlich, daß das Zusammenleben von Menschen des gleichen Geschlechts von den Medien oft positiv eingeschätzt wird. So akzeptiert auch die Öffentlichkeit immer mehr, was früher als naturwidrig angesehen wurde und unserer christlichen Auffassung nach völlig unannehmbar ist.

91. Der fast unumkehrbaren Veränderung der Familienstruktur und der Abnahme der Zahl der zur Welt gebrachten und aufgezogenen Kinder zufolge bleibt die Mehrheit der alten Menschen allein. Ihre Versorgung bleibt im wesentlichen der Gesellschaft überlassen, die jedoch das Problem nicht meistern kann. Viele alte Leute haben nicht einmal genug Geld um die zu ihrer Gesundheit notwendigen Medikamente und die alltäglichen Lebensmittel zu bezahlen. Es gibt noch mehr solche Menschen, die mit der Bedrohung des Alleinbleibens konfrontiert werden, entweder weil sie keine Verwandte oder Freunde haben, die sich um sie kümmern könnten oder weil ihre Kinder, oder ihre Verwandte sich nicht um sie kümmern.

92. Wegen der hohen Zahl der Scheidungen gibt es sehr viele alleinerziehende Elternteile. Die existenziellen Schwierigkeiten zwingen auch in den heilen Familien fast immer beide Eltern zur Berufstätigkeit, oft sogar zur Annahme von Zweit- und Drittstellen. Damit sind die Voraussetzungen für eine gesunde Kindererziehung in den meisten Familien nicht gegeben. In manchen Schichten der Gesellschaft erhalten die Kinder, die heranwachsende Generation, am Anfang ihres Lebens oft nicht einmal eine minimale Erziehung, obwohl die Kinder ein Recht nicht nur auf das Leben, sondern auch auf eine menschenwürdige Erziehung haben. Die rechtliche Schutzlosigkeit der Kinder hat sich gleichfalls nicht gemindert, und die politische Vertretung ihrer langfristigen Interessen ist praktisch unmöglich.

93. Eine besondere Aufmerksamkeit verdienen die Familien, die Kinder erziehen, insbesondere die kinderreiche Familien. In den meisten unter ihnen wird ein ideales Familienleben verwirklicht: die Kinder bekommen eine sorgfältige Erziehung und lernen die Art und Weise der richtigen Lebensführung in einer guten, gemütlichen Familienatmosphäre. Im anderen Teil der kinderreichen Familien erhalten die heranwachsenden Kinder - vor allem aus wirtschaftlichen und kulturellen Gründen - kaum eine Erziehung, ihre zukünftige Chancen sind viel schlechter als die der Kinder in den Familien, wo es weniger Kinder gibt. Es gilt jedenfalls im allgemeinen, daß die Eltern, die sich auf die Erziehung mehrerer Kinder einlassen, höhere finanzielle Lasten auf sich nehmen müssen.

... im kulturellen Leben

94. Es könnten viele Erscheinungen aufgelistet werden, die in Erwägung gezogen werden sollten. An dieser Stelle möchten wir lediglich einige Beispiele erwähnen:

(a) Das kulturelle Leben wurde früher von der zentralen Lenkung durch die Partei gelähmt, jetzt wird es durch den finanziellen Zusammenbruch bedroht; die Gesellschaft wird dabei mit ?Kulturartikeln? überhäuft, die eine dürftige Qualität, und die Persönlichkeit schädigende Auswirkungen haben.

(b) Das kulturelle Leben hat sich in einigen Regionen des Landes, vor allem in der Hauptstadt, in den vergangenen Jahren erfreulich belebt, das System der kulturellen Institutionen hat sich radikal verändert - als Folge von gesellschaftlichen und bürgerlichen Initiativen.

(c) Es ist eine typisches Phänomen heutzutage, daß wenn sich innerhalb der Gesellschaft der Zustand einer Gruppe verschlechtert, diese nur sehr selten die Möglichkeit besitzt, ihre Situation zu verbessern. Der soziale Aufstieg verlief in den vergangenen Jahrzehnten in erster Linie auf politischen Bahnen, heutzutage verbreiten sich die Hemmungslosigkeit und eine maßlose Bereicherung. Die Privilegien, die mit dem materiellen Wohlstand erworben werden setzen sich auch im kulturellen Leben durch.

Die Kommunikation

95. Die zwischenmenschlichen Beziehungen, die zivilen, also von unten initiierten, freiwilligen Zusammenschlüsse der Gesellschaft sind in der Vergangenheit bewußt zurückgedrängt worden. Es gab kaum die Möglichkeit für freie Meinungsäußerung, für selbständiges Denken und für die Bildung von Gemeinschaften. Die Menschen wurden daran gewöhnt, ihre Meinungen den zentral gelenkten Medien anzupassen. Diese Situation hat sich seit 1989-1990 leider nicht wesentlich verändert. Dieser Zustand zeigt sich auf mehreren Gebieten.

96. Wir sind nicht in der Lage in unserem Privatleben, noch in der gesellschaftlichen Dimension, wirksame und erfolgreiche Konfliktlösungen zu finden. Die Meinungen und Wertordnungen, die verschiedene Handlungsrichtungen widerspiegeln können sich im gesamtgesellschaftlichen Maßstab nicht klar zum Ausdruck zu bringen, sie können einander nicht begegnen, und sie können sich nicht zum Wohl der Gesellschaft verständigen. Es fehlt ein geeigneter Dialog für die Aufhebung oder Klärung der wertlosen oder gar wertwidrigen Ansichten und Auffassungen. So bleiben die unterschiedlichen Meinungen, Lebensformen unausgetragen; der notwendige gesellschaftliche Konsens über die grundlegenden Werte kommt nicht zustande; und die freien, individuellen oder gemeinschaftlichen Initiativen erhalten nicht den ihnen gebührenden Raum.

97. Wir waren bislang nicht imstande, unsere Vergangenheit zu bewältigen. Die Aufarbeitung der Ereignisse der vergangenen Jahrzehnte ist grösstenteils noch nicht erfolgt. Noch wichtiger wäre jedoch die Heilung der schädlichen Folgen der Verletzungen, Ungerechtigkeiten und Verzerrungen, die sowohl die Individuen, als auch die Gesellschaft erlitten haben.

Unsere Selbstwertung, sowohl vor uns selbst und voreinander, als auch was unseren Platz unter den Nationen betrifft, zeigt schwere Störungen von gesellschaftlichem Ausmaß. Die Beurteilung der Vergangenheit, des Selbstbewußtseins und der Selbstbewertung der Nation hat das Gleichgewicht verloren; sie schwankt zwischen extremen, häufig für parteipolitische Zwecke ausgenützten chauvinistischen und rassistischen Übertreibungen, und Auffassungen, die die spezifischen nationalen Werte unterschätzen und wirtschaftlich-pragmatische Nutzen in den Vordergrund stellen.

98. Die Mehrheit der Massenmedien trägt nicht zum wahren Wohlergehen der Menschen bei, d.h. zur Förderung eines harmonischen Lebens, einer gesunden Gesellschaft, der ethisch einwandfreien Wirtschaft und eines sauberen öffentlichen Lebens. Ihre Verpflichtung für die genaue, umfassende und sachliche Information erfüllen die Medien nicht ausreichend, noch weniger die Aufgabe der Erziehung der Individuen und der Gesellschaft. Die Beeinflußung der für öffentlich-rechtlichen Funktionen bestimmten Hörfunk- und Fernsehkanäle von der Parteipolitik und von dem Staat und ihre Abhängigkeit vom Kapital scheinen zunächst erheblich zu sein. Es sollen noch viele konstruktive Schritte getan werden (auch in der Gesetzgebung), damit die Medien ihre Berufung tatsächlich zum Wohl der ganzen Gesellschaft erfüllen.

Bildung und Erziehung

99. Unter den Institutionen der Bildung und der Erziehung wollen wir die Aufmerksamkeit vor allem auf die öffentliche Bildung, auf das Hochschulwesen und auf die Erwachsenenbildung lenken. Wir halten es für ein schädliches Phänomen, das schwerwiegende Konsequenzen nach sich ziehen kann, daß, wie es scheint, diese Institutionssysteme im gegenwärtigen Ungarn nicht als besonders wichtig angesehen werden; die zu ihrer Tätigkeit unerläßlichen Voraussetzungen werden nicht gesichert, und auch ihre, von unserer Zeit erforderte Umgestaltung erfolgt nicht im beruhigenden Ausmaß. Keine der erwähnten Gebiete wird zu den für die Gesellschaft lebenswichtigen Zweigen gezählt. Das zeigt sich in erster Linie darin, daß das Bildungswesen gegenwärtig auf keiner Ebene jene minimale Kostendeckung bekommt die für die Aufrechterhaltung des gegebenen Niveaus notwendig wäre - von einer Weiterentwicklung gar nicht erst zu sprechen.

Es gilt allgemein, daß die Gesellschaft nicht ausreichend für die Zukunft der jungen Generation sorgt; die notwendige Anerkennung und Akzeptanz des (allgemeinen) Bildungswesens wird nicht gesichert; die Lehrer sehen sich gezwungen, als Folge der niedrigen Löhne, zusätzliche Arbeiten anzunehmen. Deshalb sind sie überfordert, die Schulen bekommen keine ausreichende Unterstützung für ihre Tätigkeit; der Staat ermöglicht nicht den für die gesellschaftliche Vielfalt notwendigen institutionellen Pluralismus im Bildungswesen.

100. Über den Inhalt der Bildung hat sich bis zum heutigen Tag kein beruhigender Standpunkt herausgebildet. Die seit mehreren Jahren andauernden und einander oft kreuzenden Erneuerungsversuche (insbesondere in den Diskussionen über die Einführung eines sog. ?Nationalen Grundcurriculums?) sind bislang zu keinem wohl fundierten Endergebnis gekommen. Deshalb soll man danach streben, daß jede weitere Entscheidung erst nach gründlichen Vorüberlegungen erfolgt und daß der zunächst nicht existierende Konsens erreicht wird, damit die in den Schulen bereits spürbare Unsicherheit nicht weiter gesteigert wird.

101. Das allgemeine Bildungswesen und vor allem das System der Fachausbildung erfüllt immer weniger die in unserer gegenwärtigen Gesellschaft ihm zukommenden Aufgaben. Immer neue Generationen treten in Wirklichkeit unvorbereitet, mit einem, für die Gesellschaft unnützen Wissen in das Leben.

Das (öffentliche) System der Bildung sichert kaum irgendwelche, oder gar keine Nachholmöglichkeiten für die Benachteiligten. Beachtliche Schichten werden damit vernachlässigt und aus der Werteproduktion der Gesellschaft ausgeschlossen; somit erfüllt das Bildungswesen seine grundlegendste gesellschaftliche ?Leistung? nicht, nämlich den Dienst am Wohlergehen eines jeden Individuums.

Es ist also gar nicht überraschend, daß vor allem Kinder, die ohne Familien, in staatlichen Pflegeheimen oder auf der Straße aufwachsen, nicht jene Art der Erziehung erhalten, die sie zu für die Gesellschaft und für ihre Mitmenschen nützlichen Staatsbürger und zu verantwortungsvollen Persönlichkeiten formen würde. Sie werden so viel leichter zu Opfer der verschlechterten gesellschaftlichen Verhältnissen und somit zu Kriminellen.

102. Weder von den einzelnen Menschen, noch von der heutigen Gesellschaft wird die Bedeutung der kontinuierlichen Bildung und der Umschulung erkannt. Diese Tatsache trägt auch dazu bei, daß trotz aller sichtbaren Bemühungen, das existierende institutionelle System der über die allgemeine Bildung hinaus notwendigen Umschulung nicht als befriedigend angesehen werden kann, obwohl dieses - zusammen mit anderen Institutionen - zur Lösung des Problems der Arbeitslosigkeit, oder zumindest zu deren Minderung wesentlich beitragen könnte.

103. Es soll betont auf die immer schärfere, allmählich für die ganze Gesellschaft sichtbare und spürbare Verschlechterung der Situation des ungarischen Hochschulwesens hingewiesen werden. Das Hochschulwesen ist nicht einfach eine wichtige Institution der gesellschaftlichen Reproduktion innerhalb des Bildungswesens, sondern eine exzeptionell wichtige Einrichtung. Hier bekommen diejenigen die notwendige Bildung, die an die Stelle ihrer Vorgänger treten und die Lasten der Lenkung und Leitung der Gesellschaft auf sich nehmen werden. Die Gesellschaft der Jahrtausendwende wird weder ohne Spezialisten noch ohne der als schöpferisch bezeichneten Intelligenz auskommen können - viel weniger als je zuvor. Wegen der akademikerfeindlichen Politik der vergangenen Jahrzehnte sowie auch aus ideologischen Gründen ist das Hochschulwesen auf ein solch tiefes Niveau gesunken, daß deshalb unsere Chancen bei der europäischen Integration von vornerein schlechter sein werden, auch wenn wir auf einigen wissenschaftlichen Gebieten noch immer stolz auf unsere hervorragende Ergebnisse sein können. Die Zahl derjenigen, die einen akademischen Abschluß haben, ist viel niedriger als es notwendig wäre.

104. Es gibt Unstimmigkeiten um die in den letzten Jahren wiederentstandenen neuen konfessionellen Bildungsinstitutionen. Einige wollen anscheinend keine Kenntnis davon nehmen, daß eine beachtliche Gruppe der Staatsbürger ihre, in der Verfassung garantierten Rechte in Anspruch nehmen will und den Wunsch äußert, daß ihre Kinder eine religiöse Erziehung erhalten und eine konfessionelle Schule besuchen. Der Ausbau eines, dem gesellschaftlichen Bedarf entsprechenden konfessionellen Schulnetzes gehört zur Errichtung des demokratischen Rechtstaates. Es ist weiterhin auch nicht allen bekannt, daß nach dem Gesetz 1990./IV. über die Gewissens- und Religionsfreiheit die konfessionellen Schulen ein Anrecht auf die gleiche Finanzierung vom Staat haben, wie andere Schulen. Der Unterricht und die geistige Bildung der heranwachsenden Generation ist Aufgabe des Staates und der Gesellschaft. Deshalb wäre es notwendig ein vom gesellschaftlichen Sektor unabhängiges Finanzierungsprinzip zu erreichen, laut dessen den konfessionellen Schulen, die öffentliche Aufgaben übernehmen, die gleiche finanzielle Untertützung wie den staatlichen Schulen zusteht. Es kann zunächst noch nicht gesagt werden, ob diese Konfrontation der Werte und die daraus resultierenden Konflikte lediglich vorübergehende Störungen der Wendezeit sind, oder ob sie für eine längere Periode zut Kenntnis genommen werden müssen.

105. In gesunden Gesellschaften geschieht die Erziehung der Kinder auf drei Ebenen: in den Familien, in der Schule und in der Gesellschaft selbst. Die Familie, die für die Erziehung gegenwärtig an erster Stelle verantwortlich ist, kann oder will in der Mehrheit der Fälle diese ihre Funktion nicht erfüllen; sie sichert den Kindern kein Milieu der Erziehung und der Pflege. In der Gesellschaft, im ?Leben? und bedauernsweise nicht zuletzt in den Medien, vor allem im Fernsehen, artikulieren sich mehr die negativen Wirkungen und Beispiele, als die positiven Wirkungen mit erzieherischem Wert. So ist die Schule der letzte Zufluchtsort der Erziehung geblieben. Das ungarische Bildungswesen ist aber auf diese Aufgabe weder vorbereitet, noch sieht es als seine Pflicht an. Wir können anmerken, daß nicht einmal die beste Schule in sich allein, die Mängel der familiären und der gesellschaftlichen Erziehung ausgleichen und die schädlichen Einwirkungen die das Kind getroffen haben ausgleichen kann. Durch die Zusammenarbeit aller Kräfte die eine Verantwortung für die Zukunft des Landes empfinden sollte die Aufgabe der Erziehung wieder zu einer Angelegenheit von öffentlichem Interesse gemacht werden.

B. Deutungen und Empfehlungen

Institutionelle Reformen

106. Das System unserer Bildungsinstitutionen soll als ein Gebiet von besonderer Bedeutung angesehen werden. Einerseits soll dem Prestige des Wissens, dem Wert der fleißigen und ehrenhaften Arbeit und jenen grundlegenden Werten ohne die keine menschliche Kultur auf lange Sicht existieren kann (solche Werte sind unter anderen: die Zuverlässigkeit, die Ehrlichkeit, der Fleiß, die Initiativfähigkeit, das Verantwortungsgefühl den Mitmenschen und dem Gemeinwohl gegenüber, die Achtung anderer Nationen, die Heimatliebe und die Achtung der Tradition) die gesellschaftliche Akzeptanz und Achtung zurückgegeben werden. Andererseits wäre es notwendig, die weitere Zerstörung der Werte zu verhindern. Die grundlegenden Richtlinien des allgemeinen Bildungswesens sollten nicht nur den Umfang und den Inhalt des anzueignenden Wissens, das zeitgemäße Bildungsideal umreißen, sondern sie müssten auch das Ideal des wahren und vollständigen Menschen festhalten.

107. Sowohl in finanzieller, als auch in moralischer Hinsicht soll den Familien geholfen werden, ihrer Erziehungsaufgabe besser nachkommen zu können, damit die grundlegenden Werte in der Kindheit, innerhalb der Familie vermittelt werden können. In der Öffentlichkeit soll eine kinder- und familienfreundliche Atmosphäre geschaffen werden: die gedruckten und die elektronischen Medien haben in dieser Vermittlung eine besonders wichtige Rolle zu übernehmen. Die Herstellung und Verbreitung von elektronischen Unterhaltungsprogrammen (sei es im Fernsehen oder auf Videokasetten) die Gewalt und Pornographie verherrlichen muß eingeschränkt werden.

Unser Bildungssystem soll den benachteiligten Jugendlichen eine besondere Aufmerksamkeit widmen: den körperlich und/oder geistig Behinderten, denjenigen Jugendlichen, die in Kinderheimen heranwachsen, denen, die mit Anpassungsstörungen kämpfen oder die ganz jung Opfer des Alkohols, der Drogen und der ziellosen, sinnlosen, rechtswidrigen Lebensweise wurden. Für die Prevention oder zumindest Minderung der Jugendkriminalität und der Selbstmorde sollen langfristige und wirksame Programme ausgearbeitet werden, abgestützt auf die Zusammenarbeit von staatlichen Institutionen und gesellschaftlichen Initiativen. Es wäre auch wichtig, daß der Staat die für die Beseitigung dieser Probleme gegründeten freiwilligen Bürgerinitiativen, Organisationen unterstützt.

Es soll alles getan werden, um die Zahl der in staatlichen Kinderheimen aufwachsenden Kinder radikal zu mindern und sie in eine Umgebung zu versetzen, wo sie sich menschlich am besten entfalten können. Der Staat soll all jene konfessionellen und gesellschaftlichen Initiativen unterstützen, die die Versorgung und Pflege von gefährdeten Familien, Alkoholiker, Drogenabhängiger, Strafgefangenen und Haftentlassener auf sich nehmen.

In Einheit für die Zukunft

108. Unsere Kultur kann sich erst dann wieder verstärken und der nachkommenden Generation zu einer glücklicheren menschlichen Existenz verhelfen, wenn wir in uns eine Verantwortung für die Zukunft und eine mit wahren Werten geleitete, bewußte Lebensführung entwickeln können; und wenn wir ein reales und erreichbares Zukunftsbild und Wertesystem der nächsten jungen Generation weitergeben können. Der größte Schatz der Gesellschaft ist in jenen Jugendlichen verborgen, die sich bewußt darauf vorbereiten, im Dienste der Gesellschaft und der Menschheit, ein wertvolles Leben zu leben. Gerade deswegen ist die aufeinander abgestimmte Bemühung des Staates und der ganzen Gesellschaft notwendig, damit das Prestige und die Hochschätzung der Schule und der Lehrer wieder wachsen. Eine schlecht bezahlte, nicht aus Berufung arbeitende Lehrkraft wird das Fehlende, die manche Schüler von zu Hause mit sich tragen, sicherlich nicht ersetzen können. Der Staat, die Behörden, die das allgemeine Bildungswesen tragen, sollen für die angemessene Gehälter der Lehrkräfte sorgen. ?Daher ist dafür Sorge zu tragen, daß die Kulturgüter in ausreichendem Maße allen zugänglich sind, vor allem jene, die die sogenannte Grundkultur ausmachen.? ?Ziel muß also sein, daß alle, die entsprechend begabt sind, zu höheren Studien aufsteigen können (...). So werden jeder einzelne und alle gesellschaftlichen Gruppen (...) zur vollen Entfaltung ihres kulturellen Lebens gelangen können, wie sie ihren Anlagen und Überlieferungen gemäß ist.? (GS 60).

109. Im Prozeß des Wandels soll ein umfassendes Programm der Erziehung, der Bildung und der Kultur ein angemessenes Gewicht bekommen. Die Norm gilt, ?daß die Kultur auf die Gesamtentfaltung der menschlichen Person und auf das Wohl der Gemeinschaft sowie der ganzen menschlichen Gesellschaft auszurichten ist. Darum muß der menschliche Geist so gebildet werden, daß (...) das religiöse, sittliche und gesellschaftliche Bewußtsein gefördert werden.? (GS 59). Die Kirche bietet in diesem Rahmen die Werte des Evangeliums und die Schätze ihrer eigenen zweitausendjährigen Tradition an, sowie ihre Dienste zu der Erziehung und Bildung. Es gibt weltweit zahlreiche Signale dafür, daß der Verzicht auf die traditionelle Wertordnung die Existenz der Menschheit gefährdet. Das System des Parteistaates hat, nach dem Zweiten Weltkrieg, in großem Maße zu der Zerstörung der stabilen moralischen Werte beigetragen. Es hat jene Gemeinschaften zerstört und jene Institutionen aufgelöst oder geschwächt, die die genannten Werte vermittelten. Auf den übriggebliebenen Ruinen konnten sich die fast unbegrenzte Zügellosigkeit und das auf das Materielle bedachte, egoistische Konsumverhalten leicht und fast widerstandslos verbreiten. Das Christentum dient der Menschheit, indem es die für die Aufrechterhaltung der menschenlichen Existenz unerläßlichen Werte und Wahrheiten übermittelt. ?Vielfache Beziehungen bestehen zwischen der Botschaft des Heils und der menschlichen Kultur.? ?Die gute Botschaft Christi (...) reinigt und hebt die Sitten der Völker. Die geistigen Vorzüge und Anlagen eines jeden Volkes oder einer jeden Zeit befruchtet sie sozusagen von innen her mit überirdischen Gaben, festigt, vollendet und erneuert sie in Christus.? (GS 58).

110. Es ist die Aufgabe des Staates und eine Gewissensverpflichtung für jedes einzelne Mitglied der Gesellschaft, all jene Initiativen zu unterstützen, die der Veredelung der Lebensweise, der Erziehung zu grundlegenden menschlichen Werten, der Kultur des öffentlichen Lebens und des Lebens der Familie dienen. ?Aufgabe der öffentlichen Gewalt ist es (...) günstige Voraussetzungen zu schaffen und entsprechende Hilfen zu gewähren, um das kulturelle Leben bei allen, auch bei nationalen Minderheiten zu fördern.? (GS 59).

Es ist notwendig, daß die öffentlich-rechtlichen Massenmedien objektive, genaue und umfassende Informationen über die Ereignisse der Welt und des Landes geben. Sie sollen, statt Gegensätze zu entfachen, zum Dialog in der Gesellschaft beitragen; in den Aufgaben der Erziehung teilnehmen; und die Menschen unter Beachtung der Moral und der Menschenwürde unterhalten.

?Es gibt also in der menschlichen Gesellschaft ein Recht auf Information über alle Tatsachen, die den Menschen, als einzelnen oder als Mitgliedern der Gesellschaft, je nach ihrer besonderen Situation zu wissen zukommt. Der richtige Gebrauch des Rechtes fordert aber, daß die Mitteilung inhaltlich stets der Wahrheit entspricht und (...) vollständig ist.? (IM 5). ?Die Kirche erblickt in ihnen » Geschenke Gottes« , weil sie (...) die Mernschen brüderlich verbinden.? (CP 2). ?Jede Kommunikation muß unter dem obersten Gesetz der Aufrichtigkeit, Zuverlässigkeit und Wahrheit stehen.? (CP 17).

111. Die Kirche selbst trägt ebenfalls zum gesellschaftlichen Dialog und dem erwünschten allgemeinen Konsens bei, indem sie innerhalb der kirchlichen Gemeinschaften die verschiedenen Formen des ehrlichen und brüderlichen Dialogs unterstützt; sie will darüber hinaus auch an der Gestaltung der öffentlichen Meinung und an der Vergemeinschaftung der Gesellschaft aktiv beteiligen. ?Besseres Verständnis und Rücksichtsnahme unter den Menschen, Hilfsbereitschaft und schöpferische Zusammenarbeit, wie sie durch die soziale Kommunikation gefördert werden können, sind in der Tat Ziele, die mit denen des Gottesvolkes nicht nur im Einklang stehen, sondern von daher sogar noch tiefer gesichert und vervollkommnet werden.? (CP 18).

Schlußwort

112. Zahlreiche Probleme haben wir aufgezählt, zahlreiche Aufgaben beleuchtet. Wir haben all das nicht aus der Sicht des kritischen Außenseiters getan, sondern im Bewußtsein, daß die Kirche auch heute ein Teil des Lebens der Gesellschaft ist, wie sie ihr integrativer Teil war ein Jahrtausend hindurch. Wie können all diese Aufgaben und auch jene, die noch vor uns liegen verrichtet werden? Die schmerzlichen Probleme und die tiefreichenden Veränderungen unserer Gegenwart rufen uns zur Vereinigung aller Kräfte auf. Nicht nur die rechte Funktionsweise unserer Rechtsordnung, unseres politischen Systems und des wirtschaftlichen Lebens sind in Gefahr, sondern auch unsere moralische, kulturelle und menschliche Existenz. Viele werden entmutigt oder ungeduldig gemacht durch die auf uns ruhenden Lasten, durch die Krisenerscheinungen, durch den Ausmaß der Aufgaben. Die katholische Kirche, ihre Leiter und ihre Gläubigen, können sich nicht und werden sich auch nicht diesen Aufgaben entziehen. Indem sie die Verbindung zu den Mitgliedern und den Organisationen der Gesellschaft suchen nehmen sie die auf sie fallenden Aufgaben und Pflichten an. Auch mit diesem Hirtenbrief wollten wir das betonen. Möge der Prozeß der Entfaltung noch so undurchsichtig erscheinen, wir verlieren unsere Zuversicht nicht. Wir wissen von Jesus Christus, wozu Gott den Menschen erschaffen und eingeladen hat, wie der Mensch sich entfalten kann, auf welche Weise er seine Lebensumstände verbessern und Frieden und Glück in der Gesellschaft schaffen kann. Christus hat uns zur Hoffnung eingeladen und wir vertrauen darauf, daß die Hoffnung auf eine glücklichere Zukunft uns allen Entschlossenheit und Kraft verleiht, um zusammen und in einer gemeinsamen Verantwortung die Zukunft des Landes zu gestalten.

Die im Text verwendeten Abkürzungen:
AA = Apostolicam Actuositatem
CA = Centesimus annus
CP = Communio et progressio
DH = Dignitatis humanae
GS = Gaudium et spes
IM = Inter mirifica
KEK = Katechismus der Katholischen Kirche
LE = Laborem exercens
MM = Mater et magistra
OA = Octogesima adveniens
PT = Pacem in terris
QA = Quadragesimo anno
RN = Rerum novarum
SRS = Sollicitudo rei socialis